Er ist charmant, klug und gefährlich. Die Rede ist von Joe Goldberg (gespielt von Penn Badgley) in der Netflix-Serie You – Du wirst mich lieben. In jeder der drei Staffeln verliebt er sich in eine Frau und stalkt sie so lange, bis sie zusammenkommen.
Doch bei Goldberg hält die Zweisamkeit nie. Zu schnell ist er gelangweilt, zu sehr von fremden Frauen besessen. Er betrügt, stalkt, mordet. Wenn wir ab dem 9. Februar die vierte Staffel auf Netflix sehen, wird uns sicher Ähnliches erwarten – auch wenn der Teaser der neuen Reihe vermuten lässt, dass nicht nur Goldberg diesmal nach Frauen schnüffeln wird.
Zum Start der neuen Folgen wollen wir wissen, warum sich der Stalker so verhält, wie er sich verhält. Die Psychologin und Wissenschaftlerin Dr. Mareike Thomas hat Antworten gegeben.
Frau Dr. Thomas, Sie sind Binge-Watcherin von You. Was reizt Sie an der Serie?
Die Serie habe ich tatsächlich recht schnell durchgeschaut. Zu Beginn der ersten Staffel war noch nicht klar, was mit Joe Goldberg los ist und wohin sich die Serie entwickeln wird – das fand ich sehr spannend. Dann hat bei mir natürlich wie bei vielen gegriffen, dass er zunächst als ein sehr sympathischer Mensch dargestellt wird, sodass ich teilweise versucht habe, bei mir selbst im Kopf zu rechtfertigen, warum er nun das oder das tut.
Wann wurde Ihnen klar, dass bei Goldberg etwas nicht stimmt?
Jemanden zu googeln oder auf Instagram zu suchen – das ist dank Social Media nicht mehr so ungewöhnlich. Aber vor der Haustür rumstehen und durch die Fenster zu spannen, schon eher. So richtig bewusst wurde mir es dann in der ersten Staffel, als Goldberg den Ex-Freund von Beck in eine Falle gelockt und schließlich getötet hat. Da hatte ich die Hoffnung verloren, dass er zu nichts Bösem fähig sei.
Ist Goldberg ein realistischer Stalker?
In Deutschland sprechen wir vom Stalking, wenn sich Opfer belästigt fühlen und ihre Sicherheit stark betroffen ist. In You sehen wir das nicht so deutlich. Goldberg stellt seinen Opfern eher nach. Wenn wir darüber nachdenken, wie er etwa Beck beobachtet, sie dabei leicht angetrunken auf die Bahnschienen fällt, hat er ihr sogar geholfen, in dem er sie rettet. Natürlich hat er dabei ihr Handy geklaut. Aber das ist jetzt nicht so dieses typische Stalking, bei dem sich der Stalker und das Opfer im Vorfeld auch schon kennen.
Was meinen Sie mit typischem Stalking?
Beim Stalking haben wir oft ein Machtgefälle. Der Stalker möchte Druck auf die Person ausüben und will, dass es dieser schlecht geht – das sehen wir bei You nicht. Bei den Opfern von Goldberg bleibt das Stalking meist lange unentdeckt und er will eigentlich nur das vermeintlich Beste für seine Zielobjekte, ist also eher von ihnen ungesund besessen. Das ist schon sehr fiktional. Denn die Wahrheit ist, dass wir meist sehr lange und sehr unangenehme Stalkingverläufe haben, bei denen Psychoterror großgeschrieben wird. „Ich möchte Angst und Schrecken verbreiten“, ist das Motiv.
Wie können sich Opfer im realen Leben schützen?
Pauschal ist das schwierig zu beantworten. Ich würde sagen: Wenn Sie ein schlechtes Bauchgefühl bei jemandem haben, dann sollten Sie Abstand halten. Sie müssen jetzt nicht jeden direkt anzeigen, aber es lohnt sich, Beratungsstellen aufzusuchen.
Nun sagten Sie, dass Goldberg kein richtiger Stalker sei. Was ist er dann? Ein Killer?
Ja, so könnten wir es bezeichnen. Was die Serie zeigt, ist, dass er einen starken narzisstischen Hintergrund aufweist. Goldberg hat immer eine Rechtfertigung für sich. In seinem Kopf hat er nie getötet, weil er irgendwen nicht mochte. Sondern weil er es tun „musste". Das zieht sich durch seine Biografie: Der Mann, der seine Mutter misshandelt, den hat er erschossen. Das war das erste Mal, dass seine Mutter ihn an dieser Stelle bestärkt hat: „Du hast das nur getan, um mich zu beschützen. Du bist ein guter Junge.” Mr. Mooney, bei dem er dann mehr oder weniger aufgewachsen ist, hat seine Tat ebenfalls bekräftigt. Manche Menschen verdienen es zu sterben, sagte dieser zu Goldberg. Frei nach dem Motto: „Ich bin mir sicher, du hast deine Gründe gehabt, das ist vollkommen okay.” Bezugspersonen haben sein Verhalten also legitimiert.
Es muss für Goldberg folglich ein Desaster sein, wenn er später gespiegelt bekommt: Töten ist nicht akzeptiert.
Ja. Auch für die Zuschauer*innen, wenn diese realisieren: Er tötet letztlich diejenigen, die ihn kränken. Das wird spätestens klar, als er Beck tötet, das Objekt seiner Begierde. Nachdem er sie eingesperrt hat, sagt sie, dass sie ihn nie lieben könne. Mit dieser Zurückweisung kommt Goldberg nicht klar. Die, für die er alles getan hat, will ihn nicht. Dieser Schmerz rührt letztlich wieder aus der Kindheit: Goldberg hat seine Mutter beschützt – und sie hat dennoch ihre freie Zeit lieber mit fremden Männern verbracht. Das führte dazu, dass er als Kind sogar in einem Heim gelandet ist.
Sie haben bereits von Narzissmus gesprochen, ist das die Diagnose, die Sie ihm geben würden?
Ich bin absolut kein Fan von Ferndiagnosen, solche vergeben seriöse Psychologen auch im echten Leben nicht. Doch da es sich hier um einen fiktiven Charakter handelt, können wir es versuchen: Ich sehe sehr viele narzisstische Tendenzen bei ihm. Er bringt für die Diagnose einiges mit, zum Beispiel eine Grandiosität: Er weiß immer, wie es laufen muss. Er weiß, wie alles funktioniert. Beispielsweise bei Beck: Sie hat laut ihm nicht einfach eine Wohnung mit großen Fenstern, sondern sie hat sie seiner Meinung nach, weil sie gesehen werden will. Er ist der Allwissende, er kann nur das Beste in seinen Opfern hervorbringen und sie brauchen ihn.
Als wäre er ein Heilsbringer.
Genau! Und er hat auch dieses Anspruchsdenken: Goldberg hat so viel für seine Opfer gegeben, also hat er ein Recht auf ihre Liebe. Nur mit dieser unkonventionellen Liebe sieht er einen Sinn im Leben.
Aber nicht alles an ihm ist rein narzisstisch. Einige Menschen haben narzisstische Tendenzen, das ist per se auch nichts Schlechtes. Mit dem Begriff Narzisst im Sinne einer Diagnose sollten wir daher keineswegs inflationär umgehen. Denn Personen mit so einer Persönlichkeitsstörung neigen dazu, sehr manipulativ zu sein und ihrem Gegenüber übel mitzuspielen.
Bis zum Tod?
Nein, bei Narzissten ist nicht unbedingt der Fall, dass sie körperlich aggressiv werden. Was ich bei Goldberg noch sehe, sind Züge einer antisozialen Persönlichkeitsstörung. Die krasseste Ausprägung sind Psychopathen.
Ist er das – ein Psychopath?
Nein, ein richtiger Psychopath ist Goldberg auch nicht. Sonst würde er sich nicht immer wieder um Nachbarskinder wie ein Vater sorgen. Wenn wir unbedingt eine Diagnose vergeben wollen, dann geht es in die Richtung einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und antisozialen Tendenzen.
You-Autorin Caroline Kepnes hat Goldberg nicht per se als Killer geschrieben. Sie beschreibt ihn als einen sensiblen Mann, der nicht mit Gefühlen umgehen könne – „männliche Emotionen sind eine gefährliche Sache”, sagte sie in einem Interview. Ist dem so?
Das lässt sich nicht pauschalisieren. Was ist denn typisch männlich oder weiblich? Tatsächlich sagen manche Studien: Männer reagieren auf belastende Ereignisse zum Teil eher wütend – wobei bei Frauen eher Trauer einsetzt. Aber auch das wurde zum Teil widerlegt und ist oft abhängig von der persönlichen Biografie. Goldberg hat im Prinzip am Modell gelernt: Das Kind macht, was es zu Hause sieht.
Zur Person
Dr. Mareike Thomas ist stellvertretende Forschungsgruppenleiterin in der Psychoonkologie im Zentrum für psychosoziale Medizin am Universitätsklinikum in Hamburg (UKE). Dort beschäftigt sie sich mit psychosozialen Belastungen sowie Emotionsregulation in Ausnahmezuständen, insbesondere bei Krebspatienten. An der Universität Oxford studiert sie praktische Ethik und forscht zu Themen wie assistiertem Suizid. Zuvor war sie unter anderem an der Universität Halle tätig und hat im Fachbereich biologische und klinische Psychologie zu den Veränderungen im Gehirn bei psychischen Erkrankungen geforscht.
Netflixwoche Redaktion