„Meine Religion ist Orgasmus“: Die wahre Geschichte hinter dem Sex-Kult aus der Doku Orgasm Inc

Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um sexualisierte Gewalt. 

„Menschen wurden verletzt“, sagt Don Marries und schaut in die Kamera. „Wirklich schlimm verletzt.“ Er hat lockiges Haar, trägt ein schwarzes Hemd mit Blumenmuster und sieht aus wie ein Althippie. „Sie hat sich immer mehr erlaubt. Und war davon fasziniert, was sie mit anderen Menschen tun konnte. Das war ihr heimlicher Nervenkitzel.“ Sie, das ist Nicole Daedone, die Ex-Frau von Marries.

Nicole Daedone hat 2001 das Unternehmen OneTaste gegründet. Eine Art StartUp für Gesundheit, Wellness und Sexualität, das vor allem in der Bay Area in San Francisco viele Anhänger*innen fand. Daedone und ihr Team boten unter anderem Kurse in „orgasmischer Meditation“ an. Eine Technik, die 15-minütige Superorgasmen für Frauen versprach.

Daedone wurde zu einem Star. Gefeiert von den Medien. Verehrt von ihren Fans.

2018 veröffentlichte die Journalistin Ellen Huet auf der Website von Bloomberg einen Artikel, in dem sie schwere Anschuldigungen gegen OneTaste erhob: Das Management von OneTaste soll Mitarbeiter*innen dazu gedrängt haben, sich hoch zu verschulden, um auf eigene Kosten teure Weiterbildungskurse zu belegen. Einige Ex-Mitarbeiter*innen beschrieben OneTaste sogar als „eine Art Prostitutionsring“.

Auf Netflix ist jetzt die Dokumentation Orgasm Inc: The Story of OneTaste erschienen, die dem Fall um Nicole Daedone und OneTaste nachgeht. In der Doku wird nicht nur bisher unveröffentlichtes OneTaste-Archivmaterial gezeigt. Es kommen auch ehemalige Mitarbeiter*innen zu Wort, die von einer sektenähnlichen Unternehmenskultur erzählen, von emotionalem Missbrauch und sexualisierter Gewalt. Und von der Frau an der Spitze von OneTaste, die wohl eine Art Orgasmus-Religion gründen wollte. Zum Start von Orgasm Inc: The Story of OneTaste haben wir für Euch alles aufgeschrieben, was Ihr über „orgasmische Mediation“, OneTaste und Nicole Daedone wissen müsst.

Was genau ist „orgasmische Meditation“?

Bei der „orgasmischen Meditation“ legt die Frau sich auf den Rücken und spreizt ihre Beine. Der Mann stimuliert dann 15 Minuten lang die Klitoris der Frau mit einer Auf-und-Ab-Bewegung. Bei den Kursen von OneTaste wurde diese Sextechnik live vorgeführt. Häufig an Nicole Daedone selbst.

Nicole Daedone hat den weiblichen Orgasmus als eine Art Heilsversprechen verkauft. In einem TED-Talk von 2011 spricht Daedone darüber, dass wir Menschen die Verbindung zueinander verloren hätten. Gerade Frauen würden in unserer schnelllebigen, vernetzten Welt eine innere Leere spüren. Sie würden zu viel arbeiten, zu viel essen und zu viel shoppen. Und sich trotzdem einsam fühlen. Doch dagegen, sagt Daedone, gebe es ein Heilmittel: „orgasmische Meditation“. Den TED-Talk haben über 1,5 Millionen Menschen gesehen. Mittlerweile ist er gelöscht.

Warum war OneTaste in der Bay Area so erfolgreich?

Auf diese Frage gibt es unterschiedliche Antworten. In der Bay Area arbeiten viele Menschen in der Tech-Branche. Die Jobs bei Apple, Google, Meta und Co. sind gut bezahlt. Aber auch sehr einnehmend. 80-Stunden-Wochen sind keine Seltenheit. Viel Zeit für Dating bleibt da nicht. Ein Ex-OneTaste-Mitglied sagt etwa in der Doku: „Ich war wie viele Männer in San Franciscos Tech-Welt und hungerte nach körperlicher Zuneigung. Und OneTaste eröffnete mir diese Welt aus Intimität, Verbundenheit und Sex.“ OneTaste, ein Ort für die Einsamen.

San Francisco war in den 1960er Jahren das Zentrum der Hippie-Bewegung. Die Stadt zog Menschen an, die von freier Liebe und Revolution träumten. Ein StartUp wie OneTaste, das seinen Kund*innen eine neue, erfüllende Sexualität versprach, passte da gut ins Bild. „Die Menschen in der Bay Area mögen solche Ideen und sind offen dafür“, sagt jemand an einer Stelle in Orgasm Inc: The Story of One Taste.

Es gibt aber noch einen dritten Grund für den Erfolg von OneTaste in der Bay Area. Und dieser Grund hat nichts mit freier Liebe , Intimität und Verbundenheit zu tun. Sondern mit Geld. San Francisco ist eine der teuersten Städte der USA. Das durchschnittliche Gehalt beträgt hier 110.972 US-Dollar pro Jahr. Menschen, die in der Tech-Branche arbeiten, verdienen sogar oft noch mehr. Die Kurse und Workshops von OneTaste waren entsprechend teuer. Ein einwöchiger Workshop mit Daedone kostete 36.000 US-Dollar. OneTaste musste man sich leisten können. Und in San Francisco konnten das viele.

War OneTaste ein Sex-Kult?

Einigen Menschen scheint OneTaste tatsächlich geholfen zu haben, ein erfülltes Sexualleben zu haben. Jedenfalls zunächst. Ellen Huet, die Journalistin hinter dem Bloomberg-Artikel, erzählt in der Doku, dass sie mit vielen Menschen gesprochen habe, die ihr gesagt haben: Dass orgasmische Meditation ihr Leben verändert habe. Dass sie dadurch sexuelle Lust erleben konnten, die sie für unerreichbar gehalten hatten. Einige Frauen, so Huet, haben ihr erzählt, dass sie noch nie einen Orgasmus hatten, bevor sie die Technik der „orgasmischen Meditation“ gelernt haben.

Auch die Journalistin Ellen Huet kommt in der Doku zu Wort

Doch viele Mitarbeiter*innen zeichnen ein düsteres, missbräuchliches Bild von OneTaste. Ein Ex-Mitarbeiter sagt in der Doku: „Es wurde von einer Utopie zum Höllenloch.“ Eine ehemalige Mitarbeiterin berichtet davon, dass man sie genötigt habe, mit anderen Mitarbeitern Sex zu haben, wenn es zwischen ihnen Streit gab.  „Das war ein tief verwurzelter Teil der Philosophie von OneTaste.“

Eine andere Mitarbeiterin erzählt davon, dass sich oft zu viele Männer bei den Kursen zur „orgasmischen Meditation“ angemeldet hätten. „Deshalb waren immer weibliche Angestellte von OneTaste dabei, damit alle einen Partner hatten.“

„Wir sind Löwen. Wir tun nicht Falsches. So fressen wir.“

Von Nicole Daedone existieren Videos, in denen sie auf krude, frauenverachtende Art über Vergewaltigungen spricht. In einem Clip sagt sie: „Wenn man wissen will, wie man eine Vergewaltigung abwehrt, ist die Antwort: Sei dabei zu 100 Prozent angeturnt. Denn dann gibt es nichts zu vergewaltigen.“

Ein weiterer Vorwurf gegen OneTaste lautet: Eine Frau, die nach eigenen Angaben in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurde, soll man zum Sex mit fremden Männern genötigt haben, um sie von ihrem Kindheitstrauma zu befreien. Die Männer habe man auf Tinder „rekrutiert“. OneTaste streitet das ab.

An einer Stelle in Orgasm Inc: The Story of OneTaste spricht Don Marries, der Ex-Mann von Nicole Daedone, über das „verrückte Zeug, das Daedone mit ihren Angestellten gemacht“ habe. Einmal, sagt Marries, habe sie ihren Mitarbeiter*innen ein Video von Löwen vorgespielt, die im Rudel jagen, andere Tiere zerfetzen und fressen. Nicole, so Marries, soll daraufhin gesagt haben: „So sind wir. Wir sind Löwen. Wir tun nicht Falsches. So fressen wir.“

Was macht Nicole Daedone heute?

2017, ungefähr ein Jahr vor dem Bloomberg-Artikel von Ellen Huet, hat Nicole Daedone ihre Anteile an OneTaste verkauft. Angeblich für einen Millionenbetrag. Danach verließ sie wohl die USA und hielt sich vermutlich in Bali und Italien auf. Sichere Quellen gibt es dazu nicht.

Wenn man den Angaben auf ihrem LinkedIn-Profil glauben mag, lebt Daedone mittlerweile wieder in San Francisco. In Orgasm Inc: The Story of OneTaste erfahren wir außerdem, dass Daedone wohl nach einem*einer Ghostwriter*in sucht, um an einem Buch über „Cancel Culture“ zu arbeiten.

Das FBI hat in den letzten Jahren ehemalige Mitarbeiter*innen von OneTaste zu den Geschäfts- und Arbeitspraktiken des Unternehmens befragt. Auch das erzählt Orgasm Inc: The Story of OneTaste. Die Ermittlungen dauern allerdings noch an. Eine Anklage wurde bisher noch nicht erhoben.

Gibt es OneTaste noch?

Ja. Allerdings hat sich die Firma umbenannt und heißt mittlerweile „Institut für Orgasmische Meditation“. Auf der Firmenwebsite kann man eine App herunterladen, die User*innen dabei helfen soll, die Technik der „orgasmische Meditation“ zu lernen. Wenn man auf „Launch the App“ klickt, erscheint eine Infobox mit einem Werbetext. Der letzte Satz: „Mach dich bereit, dein Leben zu verändern.“

Lennardt Loss, Netflixwoche

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