Mehr als Squid Game: Warum Serien aus Südkorea boomen

Stranger, Squid Game, zuletzt Hellbound. Läuft bei Südkorea. Warum sind Serien und Filme aus dem vergleichsweise kleinen Land in Ostasien derzeit so erfolgreich, weit über die Grenzen des Kontinents hinaus? Mehr noch: Warum fühlen sie sich so dringlich an? Das erklärt auch ein Blick auf koreanische Geschichte. 

Das Feuilleton weiß es, Twitter weiß es, die Top 10 sowieso: Kino- und Serienproduktionen aus Südkorea haben aktuell enorme Strahlkraft. Squid Game, der erfolgreichste Titel auf Netflix, ist nur das offensichtlichste Beispiel. Auch Filme wie das dystopische Drama Snowpiercer, der Heist-Thriller Time To Hunt, das Fantasy-Abenteuer Okja oder der mit Oscars überhäufte Parasite beeindrucken mit erzählerischer Wucht, herausragendem Handwerk und einem Gespür für die dringlichen Fragen unserer Zeit. Damit erreichen sie ein globales Millionenpublikum. Aktuell steht Hellbound weit oben in den Netflix-Charts, fast überall auf der Welt. Koreanische Filme und Serien tun es also dem K-Pop gleich, der in den letzten 20 Jahren von einer lokalen Eigenheit zum pan-asiatischen Trend und schließlich zum weltweiten Phänomen wurde.

Warum ist südkoreanisches Storytelling so erfolgreich? Immerhin sprechen wir hier von einem vergleichsweise kleinen Land mit nur knapp 60 Millionen Einwohnern und einer Gesamtfläche, die weniger als einem Drittel von Deutschland entspricht. Einem Land, dessen Sprache praktisch nirgendwo sonst auf der Welt gesprochen wird. Einem Land, das bis in die achtziger Jahre hinein von Krieg und Unterdrückung, politischer Instabilität und kollektivem Trauma geplagt war. Vielleicht beginnt eine Erklärung ja genau dort: in der Geschichte.

Bewegte Geschichte

Bereits ab 1910 bewirkte die Besatzung durch das japanische Kaiserreich einen grundlegenden sozialen Umbruch im Land. Eine aufgezwungene Neuordnung auf sämtlichen Ebenen erschütterte das Land tief. Lokale Identitäten wurde rigoros unterdrückt, die koreanische Kultur radikal angeglichen, weil sie von der Besatzungsmacht als rückständig empfunden wurde. So verschwanden Jahrhunderte alte Traditionen quasi über Nacht. Zwangsarbeit und Verschleppung zählten in den 35 Jahren der Besatzung zum Alltag der Bevölkerung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Abzug der Japaner wurde das Land in eine sowjetische und eine amerikanische Besatzungszone aufgeteilt, ähnlich wie Deutschland. Beide Landesteile wurden zum Aufmarschgebiet der Ideologien: kommunistische Kaderbildung im Norden, eine rechtsnationale Regierung im Süden. Der Konflikt gipfelte nur wenige Jahre später im Koreakrieg und machte das Land zum ersten aktiv umkämpften Schauplatz des jahrzehntelangen Kräftemessens zwischen Ost und West. Der anschließende, sogenannte „Bruderkrieg“, in dem sich die Parteien – unterstützt von China bzw. den USA – in eine Pattsituation kämpften, verstärkte das Leid. Der Krieg forderte innerhalb von drei Jahren vier Millionen Opfer, entwurzelte Familien und spaltete das Land auch formell. Während in vielen anderen Teilen der Welt der Heilungsprozess begann, wurde Südkorea zur Frontlinie. Ein Atomschlag war gefühlt stets nur ein Missverständnis und einen nervösen Zeigefinger entfernt.

Zu diesem Zeitpunkt waren bereits drei Generationen von radikalem Wandel, Misstrauen gegenüber staatlichen Organen und einem Gefühl der Ohnmacht geprägt. Stabilität stellte sich aber auch nach dem Koreakrieg nicht ein. Zum Beispiel kam es nach der Spaltung des Landes im Südteil zu einem wirtschaftlicher Aufschwung in Höchstgeschwindigkeit. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde aus einem der ärmsten Staaten der Welt eine Industrienation. Es waren andere Vorzeichen als zur Zeit der Besatzung, aber: Die Ära der tiefen Verwerfungen setzte sich fort. Zur gesellschaftlichen Instabilität kam eine politische. Militärcoups, schnell wechselnde Regimes, Attentate. Immer wieder galt Kriegsrecht im Land: Der Ausnahmezustand war in Korea bis tief in die achtziger Jahre hinein traurige Normalität. Demonstrationen wurden brutal niedergeschlagen, politische Feinde entführt und gefoltert. Anderswo wurden solche Traumata immerhin in Musik und Film aufgearbeitet. In Südkorea verunmöglichte eine heftige Zensur auch diese Art des Umgangs mit dem Erlebten.

Entfesselte Kreativität

Interessant dabei ist: Direkt nach dem Ende des Koreakriegs hatte die Filmindustrie kurz einen beispiellosen Boom erfahren. Die noch frischen Wunden wurden in zahlreichen Melodramen thematisiert und therapiert. Es war die erste goldene Ära des koreanischen Films. Wie bei vergleichbaren filmischen Bewegungen, dem Neorealismus in Italien oder der französischen Nouvelle Vague, flossen die gesellschaftlichen Realitäten direkt in das Erzählen ein. Nach der April-Revolution im Jahr 1960 war diese kreative Hochphase aber direkt beendet. Nun mussten sämtliche Filme von staatlichen Behörden freigegeben werden. Auch der Import ausländischer Filme war scharf reglementiert. Der Apparat bewertete dabei freilich nicht die künstlerische, sondern die ideologische Qualität von Produktionen und merzte jede vermutete kommunistische Propaganda aus. Das geschah teilweise bereits in der Drehbuchphase. Brennende Fragen nicht direkt anzusprechen, sondern mit subversiven Kunstgriffen vor der Zensur zu verstecken, wurde so zu einer essenziellen Fertigkeit – die im südkoreanischen Erzählen noch heute zu spüren ist.

Nach dem Ende der Militärdiktatur und der staatlichen Bevormundung im Jahr 1987 war der Hunger nach Kino in Südkorea jedenfalls enorm. Der Kinobesuch wurde zum Ausdruck neuer Freiheit. Doch die Jahre der Gängelung hatten die heimische Filmindustrie geschwächt, gegen die großen Importe aus Hollywood waren heimische Filme machtlos. Als die Wirtschaftskrise der neunziger Jahre noch zusätzlich für Druck sorgte, wurde ein Gesetz zur Förderung der Filmwirtschaft erlassen: Kinos waren verpflichtet, jeden Kinosaal zu einem Drittel mit südkoreanischen Filmen zu bespielen. Diese Politik erwies sich schnell als erfolgreich. Eine Generation von Filmemacher*innen, die ihre neu gewonnenen Freiheiten in eine kollektive kreative Explosion katalysierte, traf auf einen Markt, der dringend koreanische Titel benötigte, um den Quoten gerecht zu werden. Verbunden mit einer Vielzahl von Einflüssen – von den großen Vorbildern Hollywoods bis hin zur goldenen Ära des Hongkong-Kinos – entstand die erste Version der so genannten „Hallyu”, der koreanischen Welle. Sie schwappte erst über Asien und dann um die Welt.

Hallyu: die Koreanische Welle

Diese Welle hatte eine kommerzielle und eine kreative Dimension. Vor allem Actionthriller aus dem eigenen Land wurden in Südkorea zu Kassenschlagern. Der Spionagethriller Shiri zum Beispiel überholte im Jahr 1999 sogar Titanic als erfolgreichsten Kinofilm. Das stattliche Budget sorgte für ein Hollywood-würdiges Produktionslevel, und in den Kameraeinstellungen zeigte sich der Einfluss der Hongkong-Bloodshed-Opern der neunziger Jahre. Vor allem aber war der Film von Regisseur Kang Je-gyu ein StückVergangenheitsbewältigung. In Shiri infiltriert eine nordkoreanische Schläferagentin den Süden, um dort mit Mordanschlägen Chaos zu stiften. Ein südkoreanischer Agent macht Jagd auf sie, romantische Verstrickung inklusive. Der Plot war gleichbedeutend mit einer kleinen Revolution, schließlich war der Konflikt lange eines der größten Tabuthemen. Die Landesteilung, der Krieg und seine Folgen durften nur im Rahmen einer sehr eng gesteckten offiziellen Deutung thematisiert werden: der Süden als einzig legitimer Teil des Landes, der Norden als Feind. Shiri war deutlich nuancierter, packte sogar das heikle Thema einer möglichen Wiedervereinigung an. In einem Monolog sinniert der Protagonist offen darüber, dass Nord- und Südkoreaner ein unteilbares Volk seien, entzweit nur durch den unglücklichen Lauf der Geschichte. 

Die neu gewonnenen Freiheiten öffneten also den Raum für neue Zwischentöne in der Interpretation der Vergangenheit. Weitere Filme knüpften dahingehend an Shiri an – als hätte die strenge Zensur der Vergangenheit das Pendel nun in das andere Extrem ausschlagen lassen. Kriegsfilme mit Big Budget zeigten die Gräuel beider Konfliktparteien. Auch Ereignisse wie die Ermordung von Präsident Park Chug-hee oder die brutale Niederschlagung der Studentenrevolten im Jahr 1980 wurden filmisch verarbeitetet – nicht als Geschichtsstunden mit erhobenem Zeigefinger, sondern als satirische Komödien mit therapeutischer Wirkung. Eine künstlerische Auseinandersetzung mit den psychologischen Folgen der Konfliktjahre war lange nicht existent. Nun wurde sie Teil der Popkultur.

Auch formal und ästhetisch änderte sich alles. Darin erinnerte die Phase um Shiri an andere wichtige Momente der Filmgeschichte, als neue Geschichten auch neue Bilder und neue Erzählformen mit sich brachten – etwa den Deutschen Expressionismus nach dem Ersten Weltkrieg oder die New Hollywood-Ära ab Mitte der sechziger Jahre. Im Korea der späten achtziger und frühen neunziger Jahre wurden vor allem Genregrenzen gesprengt. Das Publikum sollte sich nie auf die Konventionen eines bestimmten Genres verlassen können, der Film wurde so unberechenbar wie die koreanische Wirklichkeit.

Extreme Welt, extreme Kunst

Diese Idee des entfesselten Erzählens zeichnet südkoreanisches Storytelling bis heute aus. Regisseur Bong Joon-ho etwa ist ein Meister dieser Disziplin. In Snowpiercer vereint er dystopische Science Fiction und Action mit einer messerscharfen Gesellschaftsallegorie; Okja ist einerseits ein charmantes Fantasy-Abenteuer für die ganze Familie, andererseits eine fiese Satire auf die Gier von Konzernen. Der 2021er Über-Hit Squid Game treibt diese Idee des Genre-Mixes auf die Spitze. Die mit lakonischem Humor erzählte Verlierergeschichte schlägt in Horror um (literweise Blut inklusive), mündet sehr plötzlich in ein klassisches Drama und endet als bitterer Abgesang auf den Spät-Kapitalismus. Wohin die nächste Wendung führt, ahnt man dabei nie.

Netflixwoche Redaktion

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