Der Kannibale von nebenan: Die wahre Geschichte des Serienmörders Jeffrey Dahmer

Triggerwarnung: In diesem Text geht es um sexualisierte Gewalt, Rassismus und Mord.

Am frühen Morgen des 27. Mai 1991 sehen zwei junge Frauen einen Jungen verwirrt, nackt und blutend durch die Straßen stolpern. Der Junge – genannt Konerak, 15, Kind laotischer Migrant*innen – ist einem Mann entkommen, den die Welt ein paar Jahre später als einen der berüchtigtsten Serienmörder in der Geschichte der USA kennenlernen wird.

Die Frauen rufen sofort die Polizei und einen Rettungswagen. Die Sanitäter wollen den Jungen in ein Krankenhaus mitnehmen und behandeln. Er ist mit blauen Flecken übersät, blutet und ist so stark mit Drogen betäubt, dass ihm das Sprechen schwer fällt.

Doch die Polizei schickt Sanitäter und Helferinnen weg. Sie ignorieren die lautstarken Proteste. Die Frauen sollten sich nicht einmischen. Stattdessen hören die Polizisten auf eben den Mann, dem Konerak eben entkommen war, und der sein Opfer inzwischen auf der Straße eingeholt hat: Jeffrey Dahmer. Der lügt, das Kind sei 19 Jahre alt und sein Liebhaber.

Die Polizisten schicken Konerak zurück in die Wohnung von Jeffrey Dahmer – und damit in seinen Tod. Der 14-Jährige ist einer von mindestens sechzehn Jungen und Männern, die Jeffrey Dahmer in seiner Wohnung sexuell missbrauchte, tötete und zerstückelte.

Die neue Miniserie DAHMER – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer von Ryan Murphy und Ian Brennan (die Emmy-ausgezeichneten Schöpfer von American Crime Story und American Horror Story) erzählt die wahre Geschichte über diese Taten. Im Mittelpunkt steht dabei nicht der Serienmörder Dahmer. Sondern seine Opfer.

„Es geht nicht nur um ihn und seine Vorgeschichte“, erzählt Evan Peters, der Jeffrey Dahmer spielt, im Interview mit Queue. „Es geht um die Folgen. Darum, wie die Gesellschaft und unser System es mehrfach versäumt haben, ihn aufgrund von Rassismus und Homophobie aufzuhalten.“

Die Serie erzählt von einer Gesellschaft, die es Jeffrey Dahmer ermöglicht hat, über rund dreizehn Jahre hinweg auf grausame Weise zu morden. Von Polizisten, Richtern, Journalisten und Politikern, die sich durch ihr Wegsehen mitschuldig gemacht haben.

Aber auch von Menschen wie den mutigen Frauen, die versucht haben, einen kleinen Jungen zu retten. Und die nicht gehört wurden, weil sie und das Opfer (wie die meisten von Dahmers Opfern) Schwarz waren, und der Täter blond und blauäugig.

Wer war Jeffrey Dahmer?

Jeffrey Dahmers Kindheit ist nicht glücklich, aber lange auch nicht besonders auffällig. Seine Eltern interessieren sich wenig für ihn. Sie streiten oft und heftig, die Polizei muss immer wieder schlichten. Dahmers Mutter ist ständig krank, seelisch wie körperlich, sein Vater ist vor allem abwesend.

Jeffrey Dahmer selbst hat einmal in einem Interview gesagt: „Als kleines Kind war ich genau wie alle anderen.“ So ganz stimmt das nicht. An seiner Schule gilt er als Sonderling. Unter seinen Mitschüler*innen gibt es ein geflügeltes Wort: „doing a Dahmer“ („einen auf Dahmer machen“). Womit sie meinen: Da verhält sich jemand seltsam.

Schon mit 14 betrinkt Dahmer sich heimlich und raucht Gras. Sonst interessiert er sich für wenig. Er ist zwar Mitglied in einigen Vereinen und Schulgruppen, aber lustlos und schüchtern. Sein einziges echtes Hobby: Er sammelt überfahrene Tiere am Straßenrand auf und konserviert ihre Eingeweide und Knochen in Formaldehyd.

Ebenfalls mit 14 stellt er fest, dass er homosexuell ist. Er sehnt sich nicht nach einer liebevollen Partnerschaft. Sondern nach einem Mann, der sich nicht wehren kann. Der ihm hilflos ausgeliefert ist. Er möchte den perfekten „Sex Zombie“ erschaffen, wie er Jahre später erklären wird.

Der erste Mord

Kurz vor seinem 18. Geburtstag lernt Jeffrey Dahmer einen gleichaltrigen jungen Mann kennen, Steven Hicks. Dahmer lädt ihn auf ein paar Bier nach Hause ein. Als Steven Hicks gehen möchte, schlägt Dahmer ihn mit einer Hantel bewusstlos und erwürgt ihn. Er masturbiert, während er sich an der Leiche vergeht.

Am nächsten Morgen zerstückelt Dahmer die Leiche mit einem Jagdmesser. Er verpackt die Stücke in Müllsäcke und lädt sie in sein Auto, um sie zu entsorgen. Auf dem Weg wird er von einer Polizeistreife angehalten. Diese Szene ist auch im Trailer zu DAHMER zu sehen.

„Was ist in den Mülltüten?“, fragt einer der Polizisten.

„Das sind Abfälle. Aus dem Garten“, antwortet Dahmer.

Die Polizisten glauben ihm.

„Du bist 18, richtig?“, sagt einer. „Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Und das werde ich dir nicht verbauen, indem ich dich heute verhafte, okay?“

So reagieren die Behörden über Jahre hinweg auf Dahmer: Unaufmerksam und nachsichtig. Seine Vorgesetzten bei der Armee sehen weg, als Dahmer seinen Zimmergenossen vergewaltigt und tyrannisiert. Als auffliegt, dass Dahmer in einer Schwulensauna Männer mit Schlafmitteln betäubt und vergewaltigt, bekommt er Hausverbot in der Sauna. Mehr nicht. Als er einen dreizehnjährigen Jungen sexuell belästigt, wird er zwar verhaftet, doch der Richter verurteilt ihn nur zu einem Jahr Haft in einer Besserungsanstalt mit anschließender fünfjähriger Bewährung. Die Haftanstalt darf er täglich verlassen, um seinem Beruf in einer Fabrik weiter nachzugehen.

Weil er mit dem ersten Mord davonkam und auch sonst nie belangt wird, wird Dahmer mutiger mit seinen Taten. Er beginnt wieder zu morden. Er lockt Jungen und Männer in sein Appartment, wo er sie betäubt und tötet. Er schändet die Leichen, zerstückelt sie, behält Leichenteile für sich, und isst Teile der Toten.

Zwischen 1978 und 1991 tötet er mindestens 16 Menschen. Sein letztes Opfer kann aus seinem Apartment fliehen und ruft die Polizei.

Die Verhaftung

Als die Polizisten 1991 die Wohnung des inzwischen 31-jährigen Jeffrey Dahmers betreten, finden sie ein Horrorkabinett vor: Eine Gefriertruhe voller menschlicher Köpfe, Knochen und Organe. Im Schlafzimmer sieben Totenschädel, eine blutüberströmte Matratze, zwei vollständige Skelette, ein Paar abgetrennte Hände und mumifizierte Leichenteile.

Jeffrey Dahmer gesteht die Morde, die Nekrophilie, die Vergewaltigungen und den Kannibalismus. Er ist gern zu Interviews bereit und kooperiert bereitwillig mit der Polizei. (Originalaufnahmen aus diesen Gesprächen sind bald in der Doku Jeffrey Dahmer: Selbstporträt eines Serienmörders zu hören, die am 7. Oktober auf Netflix erscheint.)

Vor allem der Kannibalismus weckt sofort das Interesse der Medien – erst sechs Monate zuvor ist der Film Das Schweigen der Lämmer erschienen. Jeffrey Dahmer wird zu einer Art Pop Ikone unter den Serienmördern. Kurz nach seiner Verhaftung kürt das People Magazine Jeffrey Dahmer zu einem der 100 faszinierendsten Menschen des 20. Jahrhunderts. Über die Menschen, die Dahmer getötet hat, spricht hingegen kaum jemand.

Den Opfern eine Stimme geben und Rassismus aufzeigen

Die meisten von Jeffrey Dahmeres Opfern waren Schwarz und aus der Schwulenszene. Dahmer selbst sagte dazu aus, junge, Schwarze Männer seien einfach seine Präferenz gewesen. Den Ermittlern erzählte er, dass er tötet, um die Einsamkeit zu vertreiben. „Ich wollte nicht, dass sie gehen.“

Doch diese Jungen und Männer waren natürlich auch leichte Opfer. Denn die Behörden schenkten ihnen wenig Beachtung.

Rashad Robinson, Präsident der gemeinnützigen Bürgerrechtsorganisation Color of Change und Berater für die Serie DAHMER, sagt dazu im Interview mit Tudum: „Ich wollte sicherstellen, dass wir den systemischen Rassismus in der Polizeibehörde von Milwaukee wirklich besser verstehen. Dass wir wirklich alle Arten des polizeilichen Versagens in jeder einzelnen Phase hervorheben. Die Anreizstrukturen, die es einem blonden, blauäugigen Kerl erlaubten, immer wieder Menschen zu töten und zu verletzen, insbesondere Schwarze und People of Color.“

„Es ist, als würden die Probleme unserer Leute nicht zählen“, sagt Glenda Cleveland in DAHMER.

Die Polizei hätte Dahmer viel früher stoppen können. 1990 zog Dahmer in das Apartment 213 im Oxford-Apartment-Komplex in der nördlichen 25. Straße in Milwaukee. In diesem Apartment verübte er einen Großteil seiner Morde.

Dahmer hatte eine aufmerksame Nachbarin: Glenda Cleveland. Ihr kam Dahmer sofort seltsam vor. Schnell bemerkte sie dann auch den Leichengeruch, der aus Dahmers Wohnung drang. Sie rief über Monate hinweg immer wieder die Polizei. Und flehte die Polizisten an, einzugreifen: „In der Wohnung über mir wird gerade ein Mensch ermordet!“

Es waren Glenda Clevelands junge Tochter und ihre Nichte, die den blutenden 14-jährigen Konerak 1991 zur Hilfe eilten, als er aus Dahmers Wohnung floh. Sie kannten den Jungen, hatten ihn schon oft im Viertel gesehen. Doch die Polizei glaubte ihnen nicht. Und Jeffrey Dahmer konnte ungehindert noch vier weitere Menschen töten, bis er gefasst wurde.

Netflixwoche Redaktion

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