Wie dreht man intime Szenen, Lizzy Talbot?

„Gehen Sie jetzt“, sagt Anthony. „Sie wissen doch, dass ich Ihre Befehle ignoriere“, antwortet Kate. Die Kerzenlichter im abgelegenen Garten flackern, sie sehen sich tief in die Augen. Dann fallen der Lord (gespielt von Jonathan Bailey) und seine Angebetete (Simone Ashley) sich in die Arme. Sie küssen sich, halten sich fest. Anthony dreht Kate wie bei einem Tanz, öffnet den Reißverschluss ihres Kleides. Sie knöpft sein Hemd auf, er streift ihre Handschuhe ab. Bis sie irgendwann wie die restliche Kleidung zu Boden fallen und Anthony zwischen ihren Beinen verschwindet.

Mit Momenten wie diesem erregt Bridgerton seit seiner ersten Ausstrahlung im Jahr 2020 Aufsehen. Sexszenen, aber auch andere intime Augenblicke, wenn Kate und Anthony um ihre Gefühle ringen. Im Fokus der Netflix-Serie steht pro Staffel eine ergreifende Liebesgeschichte. Mit dem Spin-off Queen Charlotte kommt im Mai eine weitere hinzu – die der Königin Charlotte.

Lizzy Talbot hat diese Produktionen begleitet. Als Intimitätskoordinatorin war sie schon bei zahlreichen Drehs dabei, für Serien wie Bridgerton, Anatomie eines Skandals und The Witcher. Sie weiß, was Intimität bedeutet, wie sich Darsteller*innen wohlfühlen. Im Interview mit Netflixwoche hat sie verraten, welche Szenen am schwierigsten sind.

Netflixwoche: Frau Talbot, wir leben in einer Gesellschaft, in der es fast keine Tabuthemen mehr gibt: Sex, Therapie, Tod – alles wird thematisiert. Was gilt heute also noch als intim?

Lizzy Talbot: Ich denke, dass alles, was Sie aktiv zu schützen versuchen – indem Sie sich Grenzen setzen, um Ihre geistige und körperliche Gesundheit zu wahren – auch heute noch als intim gilt. Letztlich können aber nur Sie entscheiden, was das ist.

Was war denn die intimste Szene, die Sie als Intimitätskoordinatorin begleitet haben?

Es müsste entweder eine der Geburtsszenen in der BBC-Serie This Is Going to Hurt sein oder die vielen intimen Szenen in der sechsten Episode der ersten Staffel von Bridgerton auf Netflix.

Daphne (Phoebe Dynevor) und Simon (Regé-Jean Page) tanzen nicht nur auf dem Ball zusammen.

Wieso? 

Eine Geburt ist eine unglaublich persönliche Erfahrung und von Natur aus verletzlich. Frauen entblößen nicht nur die intimsten Stellen ihres Körpers, sondern tun das auch zu einem Zeitpunkt, an dem ihre psychische und physische Gesundheit am stärksten angegriffen ist. Geburtsszenen können darüber hinaus sehr komplex sein, da die Darstellerinnen gegebenenfalls ihre eigenen schwierigen Erfahrungen gemacht haben und diese nur schwer verdrängen können.

Wie sieht es bei Bridgerton aus? In der erwähnten Episode sehen Zuschauer*innen, wie Daphne und Simon an allen möglichen Orten auf seinem Anwesen Sex haben.

Die Szenen waren eine große Herausforderung, da sie mit einem enormen Arbeitsaufwand verbunden waren – wir waren die ganze Zeit vor Ort. Wir haben zwei Monate lang gefilmt und waren häufig bei sehr kalten Temperaturen draußen.

Was tun Sie, damit sich die Schauspieler*innen wohlfühlen?

Ich spreche mit ihnen, um Informationen über ihre Grenzen zu erhalten sowie eine Form der Zustimmung zu finden. Daraus ergibt sich dann, wie wir die Choreografie in den Proben entwickeln – um sicherzustellen, dass sich jeder wohl fühlt.

In den Medien wird berichtet, dass Intimitätskoordinator*innen hauptsächlich mit Requisiten wie Bällen arbeiten.

Wenn wir mit intimen Szenen arbeiten, verwenden wir tatsächlich viele verschiedene Hilfsmittel, um Sicherheitsbarrieren zu schaffen. Mein Favorit ist allerdings ein Kissen aus Memory-Schaumstoff. Es lässt sich so zusammendrücken, dass die Arbeit der Schauspieler*innen nicht behindert und dennoch die Distanz zwischen ihnen aufrechterhält wird.

Und wenn nicht? Kann es am Dreh peinlich werden?

Ich versuche, am Set immer eine Atmosphäre zu schaffen, bei der man Spaß hat. Simulierten Sex echt aussehen zu lassen, ist für viele eine sehr ungewohnte Situation. Und es gibt Schauspieler*innen, die keine Freude an intimen Szenen haben – genauso wie sie vielleicht keinen Spaß bei Stunts oder Action-Szenen haben. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass man ziemlich leicht eine gute Zeit haben kann.  

Ist das eine Hose? Mit Gürtel? Anthony (Jonathan Bailey) ist am Set von Bridgerton unter der Decke nicht nackt.

Sie bezeichnen sich selbst als Anwältin der Schauspieler*innen. Was meinen Sie damit?

Manche Schauspieler*innen haben in der Vergangenheit negative Erfahrungen gemacht, haben sich bei diesen Szenen nicht wohl oder sicher gefühlt. Darum freuen sie sich über Anwesenheit von Intimacy Coordinators. Sie melden mir zurück, dass es beruhigend ist, eine dritte Partei dabei zu haben, die sich am Set für sie einsetzt und die eine spezifische Choreografie liefern kann.

Sehen Sie denn, wenn bei einer Szene niemand mit Ihrer Rolle dabei war? 

Man kann nicht immer erkennen, ob jemand dabei war. Aber wenn man weiß, dass es eine*n Koordinator*in für Intimität gab, macht es viel mehr Spaß, sich eine Szene anzusehen. Denn niemand will zusehen, wie Schauspieler*innen auf der Leinwand wirklich angegriffen werden! Und es ist schrecklich, auch nur daran zu denken, dass diese schlimmen Momente im Film verewigt wurden.

Frau Talbot, wie sind Sie eigentlich Intimitätskoordinatorin geworden?

Ich habe als Fight Director angefangen und bei Szenen mit häuslicher Gewalt gearbeitet. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Schauspieler*innen häufig keine Probleme mit der Gewalt haben – sie haben oft jahrelanges Training hinter sich –, sondern mit Intimität. Dafür gab es aber kein Training.

Deswegen begann ich 2015 zu ergründen, wie es aussehen würde, Intimität auf die gleiche Weise zu kodifizieren wie Gewaltszenen. Ich begann, Workshops zu veranstalten, mit Vertreter*innen der gesamten Branche zu sprechen und letztlich als Intimitätskoordinatorin zu arbeiten.

Nicht nur actionreiche, sondern auch intime Szenen müssen Darsteller*innen lernen.

Sie haben 2015 angefangen, doch der Job wurde erst mit Netflix-Serien wie Sex Education so richtig bekannt. War die #MeToo-Bewegung eine Hilfe?

Die #MeToo-Bewegung war sicherlich ein Katalysator für Veränderungen – etwas, für das ich immer dankbar sein werde. Sie hat meine Arbeit unterstützt, doch den Job habe ich schon zuvor gemacht.

Was haben Sie aus Ihrer Arbeit für Ihr Privatleben gelernt?

Als Intimitätskoordinatorin arbeite ich jeden Tag mit Zustimmungen und Grenzen – die Verpflichtung zur Kommunikation lässt sich definitiv auch ins Privatleben mitnehmen. Ohne sie können wir nicht arbeiten. Und erst wenn wir sie nutzen, schaffen wir eine sicherere, klarere und interessantere Welt.

Zur Person

Lizzy Talbot ist seit 2015 Intimitätskoordinatorin. Sie war eine der ersten, die in Großbritannien, den USA und der EU tätig war, und gründete die Organisation Intimacy for Stage and Screen mit. Zu ihren Referenzen gehört neben Bridgerton auch Anatomie eines Skandals und The Witcher. Außerdem arbeitet sie für Theater und Opern und gibt Workshops sowie Kurse.

Lizzy Talbot ist Intimitätskoordinatorin. (Foto: Tom Ziebell)

Netflixwoche Redaktion

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