How I’m Feeling Now: Lewis Capaldi, der ganz normale Mann

Kartoffelrösti, die im dunklen Backofen brutzeln. Hundekot, der im Hausflur liegt. Und in einem umgebauten Holzschuppen direkt neben dem Elternhaus sitzt er: mit kinnlangen, zerzausten Haaren, roten Pickeln im bleichen Gesicht. Der Kapuzenpulli ist über die Speckröllchen gezogen, die Hand vor dem Mund. „Ich bin es, Lewis Capaldi, der hässliche Bastard“, sagt der junge Mann in die Laptop-Kamera.

Seit dem 5. April läuft die Doku Lewis Capaldi: How I'm Feeling Now auf Netflix. 97 Minuten über einen der aktuell wichtigsten Shooting Stars der Musik: Sein Debüt Divinely Uninspired to a Hellish Extent wurde 2019 wie 2020 zum meistverkauften Album des Jahres in den UK. Seine Single Someone You Loved machte den heute 26-Jährigen zum ersten schottischen Solokünstler, der seit Sheena Easton im Jahr 1981 die Nummer 1 der USA erreichte. Und mit seinem TikTok-Kanal bedient er fast täglich 6,9 Millionen Follower.

Aber die Doku zeigt, dass Lewis Capaldi mehr ist als ein erfolgreicher Musiker. Capaldi steht für einen neuen Typ Männlichkeit im Pop-Geschäft.

In How I’m Feeling Right Now sagen Capaldis Eltern, dass seine emotionalen Songs die Menschen berühren. Im Studio pocht das Label-Personal auf Hits, Hits, Hits. Capaldi macht sich Sorgen, dass sein neuer Song zu sehr an seinen Mega-Hit Someone You Loved erinnert. Völlig egal, sagt sein Manager Ryan Walter. Nein, mehr noch: Umso besser! „Die Leute lieben Sachen, die genauso klingen“, sagt Walter.

Capaldi, die austauschbare Pop-Hit-Maschine? Damit fühlt er sich sichtlich nicht wohl.

How I'm Feeling Now zeigt Capaldis Gefühle

Der Schotte selbst zweifelt an seinem Erfolg. Er fühlt sich wie ein Hochstapler. Die Arbeit an seinem zweiten Album (Broken by Desire to Be Heavenly Sent, ab 19. Mai 2023 erhältlich) nervt. Seine Schulter zuckt, ein Symptom des erst vor Kurzem bei Capaldi diagnostizierten Tourette-Syndroms.

Wie der Titel How I'm Feeling Now verspricht: In der Doku geht es um Lewis Capaldis Gefühle. Sie stehen im Vordergrund, nicht sein Werdegang (entdeckt von Manager Ryan Walter auf Soundcloud), die Musik (Pop) oder die Vorbereitung auf seine erste Show nach der Pandemie (O2 Arena in London). Damit unterscheidet sich die Produktion von Beyoncés Homecoming, J. Los Halbzeit und all den anderen Filmen über das glamouröse Leben der Popstars. 

Überhaupt ist Capaldi nicht mit seinen Kolleg*innen zu vergleichen. Der Kapuzenpulli-Träger aus dem Schuppen hat weder Justin Timberlakes Waschbrettbauch noch seine Tanz-Skills. Er hat nicht die puppenglatte Haut von Shawn Mendes und auch dessen nettes Image. Er ist kein tätowierter Rocker wie Machine Gun Kelly, kein cooler Rapper wie Biggie, und erst recht nicht so hübsch-geschminkt wie die Boys von BTS. Bleibt man bei gängigen Kategorisierungsklischees, würde Capaldi höchstens in die Sitcom The IT Crowd passen. Wobei ihm selbst dafür Bart und Brille fehlen.

Lewis Capaldi ist ein ganz normaler Mann.

Stattdessen grübelt der Musiker und flucht. Er mag es, wenn Mama kocht, aber bitte kein Käse. Er würde gerne wie Kurt Cobain aussehen, bleibt am Ende jedoch bei Shirt statt Strickjacke. Und wenn er bei einem One-Night-Stand ist, wäre es cool, wenn ihn danach jemand aus der Familie mit dem Auto abholt. Capaldi ist eine Seltenheit im Popgeschäft: ein ganz normaler Typ.

Aus dem Alltag eines normalen Mannes

In How I'm Feeling Now spricht der Musiker oft vom Leben in Schottland, von den gemütlichen Pubs und den normalen Menschen. Eigentlich wollte er nicht zurück, doch die Pandemie zwang ihn. Es ist ein Alltag, wie ihn womöglich viele Fans selbst kennen. Und trifft den Zeitgeist, wenn man den Siegeszug von Apps wie BeReal verfolgt: Raus aus der geschönten Glitzerwelt, rein in die Jogginghose. Es geht um Realität, Identifikation, ungeschminkt und ohne Filter. Und es ist leicht, sich so normal wie Capaldi zu fühlen.

Im Studio verzweifelt: Lewis Capaldi.

Im Schuppen zeigt der Schotte, wie schwer selbst all das sein kann. Er versucht lässig über das Machen von Musik zu reden, zieht einen Masturbationsvergleich ran. Dann stockt er, verweist auf sein Elternhaus. Es dort zu tun, sei eine gefährliche Sache. Er lacht, schaut verlegen auf den Boden.

Gefühle, Unsicherheiten, Ängste – Capaldi macht in solchen Momenten Witze, versteckt sich aber nicht hinter seinem Humor. Und selbst wenn er es versuchen würde, würde er vermutlich den normalen, realen Typ im Kapuzenpulli nicht loswerden.

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Lewis Capaldi: How I'm Feeling Now ist seit dem 5. April auf Netflix abrufbar. Das Album Broken by Desire to Be Heavenly Sent wird am 19. Mai 2023 erscheinen.

Netflixwoche Redaktion

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