Golshifteh Farahani im Gespräch: „Ich weiß genau, was es bedeutet, als Fremde im Exil zu sein“
- 16.6.23
Eine Kriegerin. Eine Schwarzmarkt-Händlerin. Eine Frau, die einen großen Schmerz in sich trägt. So beschreibt Golshifteh Farahani ihren Charakter in Tyler Rake: Extraction 2: In dem Netflix-Action-Thriller spielt Golshifteh Farahani die Söldnerin Nik Kahn. Gemeinsam mit ihrem Team-Partner Tyler Rake (gespielt von Chris Hemsworth) kämpft sie unerbittlich – in einer spektakulären Stunt-Szene befreien sie gemeinsam die Familie eines georgischen Gangsters aus einem Gefängnis.
Im Netflixwoche-Interview erzählt Farahani über Strapazen beim Dreh, was eine gute Frauenrolle im Actionfilm ausmacht und warum sie sich so gut in ihre Rolle einfühlen kann.
Netflixwoche: Der Dreh für den ersten Teil von Extraction war in Thailand und Indien. Wie war es, dieses Mal im tschechischen Winter zu drehen?
Golshifteh Farahani: Es war wirklich nicht einfach! Erstmal war es harte körperliche und mentale Arbeit. Und dann haben wir Schauspieler uns mit dem Omicron-Virus angesteckt. Ich habe meine Quarantäne in einem Zimmer verbracht, von dem ich die Prager Burg sehen konnte. Hin und wieder haben mir Leute Essen vorbeigebracht. Am Ende habe ich mich gefühlt wie die Schabe aus Kafkas Die Verwandlung.
Konntest du auch mal die Landschaft genießen, zum Beispiel in der malerischen Berghütte, in der Tyler Rake in Extraction 2 wohnt?
Überhaupt nicht! (lacht) Vom Hotel dorthin zu kommen hat eine Stunde gedauert. Wir wurden um vier Uhr morgens zum Dreh abgeholt. Und es war klirrend kalt. Ich muss aber auch sagen: Prag hat mir wirklich Freude gemacht. Prag ist für mich wie eine Süßigkeitenstadt, die kulturell einfach unglaublich ist. Ich bin dort von einer Oper ins nächste Konzert und von dort ins Theater gegangen. Der Dreh war also eine harte Zeit, aber ich hatte auch viel Spaß.
Wie war es für dich, nach all den Strapazen das fertige Produkt zu sehen, für das ihr so hart gearbeitet habt?
Nach so einem Prozess weiß man natürlich schon, dass das Endprodukt akzeptabel sein wird. Für mich war es besonders wichtig, dass wir es schaffen, das Publikum emotional zu erreichen. Manchmal ist es ja so, dass ein Film in den Schnitt kommt, und dort schneiden sie so viel raus – und am Ende eine Art TikTok-Film übrig. Das war bei Extraction wirklich der Lohn für mich: Die Momente zu sehen, die emotional fesseln. Auf der großen Leinwand habe ich den Film allerdings noch nicht gesehen. Das wollen wir mit Chris, Sam und allen anderen zusammen in New York machen.
„Sie ist eine Piratin. Sie ist eine Kriegerin, sie ist ein Soldatin, eine Waffenhändlerin. Sie ist so viel auf einmal.“
Wenn man über zwei Filme hinweg eine Action-Heldin wie Nik Khan spielt, fängt man dann irgendwann an, sich auch wie eine zu fühlen?
Naja, ich arbeite seit 26 Jahren beim Film. Ich vermische die Rollen, die ich spiele, nicht wirklich mit mir selbst. Schon, damit sie nicht in mein Leben sickern. Manchmal tun das ihre Emotionen. Bei dieser Rolle war es eher der körperliche Aspekt, der mich auch persönlich beeinflusst hat. Ich war durch das ganze Training super stark. Wenn ich mich in den Szenen ansehe, denke ich: Wow, ich bin verdammt muskolös! Also habe ich mich schon wie eine Superheldin gefühlt. Aber wegen dem Training, nicht weil meine Figur Leute umbringt.
Was macht Nik Khan besonders?
Sie ist nicht da, damit sich ein Hauptcharakter in sie verliebt. Ihre Sexualität oder Nationalität definieren sie nicht. Sie ist einfach ein Mensch. Sowas ist sehr selten bei weiblichen Filmcharakteren. Eine Frau neben Chris Hemsworth stellen, ohne Liebesgeschichte – das ist ziemlich mutig. Welche Produktion würde sowas machen? Ich liebe das einfach!
Es klingt so, als sei dir Nik Khan sehr sympathisch.
Ich verehre sie! Sie ist nicht schwarz oder weiß. Ich liebe ihre Erbarmungslosigkeit, ich liebe ihre Gewalt. Sie ist brutal, sie tötet, sie vergießt Blut. Sie ist eine Piratin. Sie ist eine Kriegerin, sie ist ein Soldatin, eine Waffenhändlerin. Sie ist so viel auf einmal. Ich liebe Menschen in Graubereichen, die Variationen im Charakter haben.
„Ich war von Kopf bis Fuß mit blauen Flecken übersät, ich war verletzt. Aber es war wunderbar.“
Stell dir vor, du würdest Nik Khan an einer Hotelbar treffen. Würdest du mit ihr etwas trinken wollen?
Ich glaube, wenn ich sie an der Bar sehen würde, würde ich mich gar nicht trauen, in ihre Nähe zu gehen. Wahrscheinlich wären überall Bodyguards um sie herum. Sie ist wie die Herrscherin über ein Imperium, mit einem Haufen Geld und Waffen. Diese Figur ist ein Mysterium, an das man im wirklichen Leben gar nicht herankommt. Aber wenn ich doch die Chance hätte, dann würde ich liebend gerne etwas mit ihr trinken.
Was würdest du sie fragen?
Ich würde sie fragen, wo ihr Schmerz herkommt. Und nach ihrer Vergangenheit. Ich würde mehr über ihre Reise erfahren wollen und wie sie zu der Frau geworden ist, die sie ist. In einer Szene sagt sie zu Tyler Rake: „Ich weiß wie es sich anfühlt, in dieser Situation zu sein. Ich war auch mal da.“ Sie wirft einfach diesen Hinweis in den Raum. Um Nik zu erklären, bräuchte es nochmal einen eigenen Film. Aber ich glaube, sie und Tyler Rake fühlen sich in Schmerz verbunden. Sie beide trauern um etwas.
Hast du eine besondere Strategie, um so einen Schmerz zu spielen?
Ich muss nicht erst irgendwas finden, um Schmerz zu spielen. Ich bin sowas wie die Inkarnation von Schmerz. Der Schmerz ist da und ich kann ihn einfach nehmen, wegen der Dinge, die ich in meinem Leben erlebt habe. Ich weiß sehr genau, was es bedeutet, als Fremde im Exil zu sein. Jemand zu sein, der in Schmerz und Einsamkeit lebt. So ist Nik auch. Ich muss also nur da sein und es fühlen. Sie ist zwar eine Killerin und ich bin es nicht, aber wir sind in anderen Bereichen verbunden.
Hast du eine Lieblingsszene aus Extraction 2?
Die Kampfszene im Zug ist für mich die Kirsche auf dem Kuchen. Es ist ein historischer Kampf, ein Kampf, an den man sich erinnert. Das Stunt-Team hat mir gesagt, das war einer der unglaublichsten Kämpfe, die sie je gemacht haben. Besonders die Kämpfe zwischen den Frauen – es ist wie ein Tanz. Und ich musste die Choreografie in zweieinhalb Tagen lernen. Die Stuntdouble standen bereit, aber ich habe es allein gemacht. Darüber bin ich wirklich wirklich froh. Ich habe zwar einen Fluß in meinen Anzug geschwitzt, ich war von Kopf bis Fuß mit blauen Flecken übersät, ich war verletzt. Aber es war wunderbar.
Zur Person:
Golshifteh Frahani wird 1983 in Teheran in eine Künstlerfamilie geboren. Mit 14 Jahren spielt sie ihre erste Hauptrolle in dem iranischen Film The Pear Tree; 2009 spielt sie zusammen mit Leonardo DiCaprio im Ridley Scott-Thriller Body of Lies. Die iranische Regierung sieht in dem Film amerikanische Propaganda und eine Verletzung des islamisches Rechts in Farahanis Rolle, denn sie trägt keinen Hijab. Die Wiedereinreise in ihr Heimatland und die Arbeit im Iran wird ihr verboten. Seitdem lebt Farahani im Exil in Frankreich und dreht Filme. Sie engagiert sich für Frauenrechte und weist auf die Situation im Iran hin.
Emeli Glaser, Netflixwoche