„Gladbeck betrifft uns alle“: Die Macher der Doku im Gespräch über das Geiseldrama

Bremen, 17. August 1988. Hans-Jürgen Rösner ist seit gestern auf der Flucht, er sieht verschwitzt aus, übermüdet und fertig, als er die Fragen der Journalisten beantwortet. „Wir werden einige Forderungen stellen und werden die nicht erfüllt, dann knallt es“, sagt er und schaut in eine Kamera. In der rechten Hand hält Rösner eine Pistole. „Aufgeben werden wir auf keinen Fall. Ich kann ihnen sagen, wie das dann abläuft.“ Rösner deutet auf einen Bus, der hinter ihm steht. Darin: über 30 Geiseln. „Dann knallt es. Und die letzte ist dann...“, sagt Rösner und nimmt seine Pistole in den Mund. Die Fotografen, die ihm umlagern, drücken auf die Auslöser ihre Kameras und es gibt ein Blitzlichtgewitter für einen Schwerverbrecher.

Diese verstörende Szene stammt aus dem Dokumentarfilm Gladbeck: Das Geiseldrama, der neu auf Netflix erschienen ist. Der Film rekonstruiert einen Kriminalfall, der sich vom 16. bis zum 18. August 1988 in Westdeutschland ereignet hat und heute als ein Lehrstück für Medien- und Polizeiversagen gilt: Nach einem Banküberfall in Gladbeck nahmen die beiden Haupttäter Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski auf der Flucht vor der Polizei mehrfach Geiseln und fuhren mit ihnen von Gladbeck nach Bremen, dann in die Niederlande und nach Köln, bis sie schließlich auf der A3 bei Bad Honnef gestellt werden konnten.

Dabei wurden Rösner und Degowski von ungezählten Journalist*innen belagert, die sich den Verbrechern anbiederten, mit ihnen Interviews führten, ihnen den Weg aus der Kölner Innenstadt wiesen und sich zu ihnen ins Fluchtauto setzten. Es war das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Millionenpublikum eine Geiselnahme live im Fernsehen verfolgen konnte. Die Polizei wirkte während der 54 Stunden langen Geiselnahme völlig hilflos. Am Ende starben drei unschuldige Menschen.

Zum Start der Doku Gladbeck: Das Geiseldrama haben wir ein Interview mit dem Regisseur Volker Heise und dem Produzenten Yan Schoenefeld geführt. Ein Gespräch über die Macht der Bilder, die Mitschuld der Zuschauer*innen und die Frage, warum Heise und Schoenefeld bewusst auf Interviews mit Zeitzeug*innen verzichtet haben.

Netflixwoche: Könnt ihr euch noch erinnern, was ihr im August 1988 gemacht habt, als es in den Medien nur ein Thema gab: die Geiselnahme in Gladbeck?

Yan Schoenefeld: Ich weiß noch, dass ich sehr eingesogen war von diesen Ereignissen, von der ganz neuen Bildersprache und Berichterstattung, die da entwickelt wurde.

Volker Heise: Man entkam dem auch nicht. Ich saß vor dem Fernseher und mir ist echt die Klappe runtergefallen. Ich war total geflasht von dieser Unmittelbarkeit und von der Tatsache, dass Journalisten Verbrecher interviewen, während das Verbrechen stattfindet. Eine Sache zeigt sich am Fall Gladbeck besonders krass: Was für eine Geschwindigkeit diese Dynamik zwischen Verbrechern, Zuschauern, Medien und Polizei aufnehmen kann. Wie das eine das andere bedingt. Wahrscheinlich wäre Gladbeck anders ausgegangen, wenn es eine andere Berichterstattung oder vielleicht auch gar keine gegeben hätte.

Yan Schoenefeld: Man darf auch nicht vergessen, dass die Verschiebung dieser Grenzen der Berichterstattung zu Opfern führen kann. Das sehen wir in unserem Film sehr deutlich: Es kommen unschuldige Menschen ums Leben. Es gibt Opfer bei dieser Art von Berichterstattung.

Volker Heise: Da ist eine Dynamik zwischen Polizei, Medien und Zuschauern entstanden, aus der plötzlich keiner mehr ausbrechen konnte. Und darum geht es uns in unserem Film: Wir wollen schauen, was für eine Dynamik sich damals entwickelt hat.

Dafür habt ihr eine ungewöhnliche Form gewählt. Ihr verzichtet im Film auf Interviews mit Zeitzeug*innen und arbeitet ausschließlich mit Originalaufnahmen.

Volker Heise: Als wir uns überlegt haben, wie wir den Film machen, habe ich mir Dokumentationen über die Geiselnahme angeschaut. Und da hieß es oft: Sie sehen jetzt schlimme Bilder und es ist ganz schlimm, dass diese Bilder gemacht worden sind. So, und nun gucken Sie sich das alles doch mal an.

Klingt zynisch.

Volker Heise: Das ist so eine Doppelmoral, die funktioniert nicht. Deshalb haben wir uns gesagt: Wir müssen den Stier bei den Hörnern packen. Wir müssen sagen: Ja, das Geiseldrama hat man damals wie eine Show erzählt. Und wir nehmen euch heute noch mal mit auf diesen Trip. Aber am Ende sind Menschen tot. Und das sind reale Menschen. Das ist keine Show. So haben wir den Film auch aufgebaut. Am Ende hört die Musik und die Action auf und auf der Autobahn liegen einfach nur noch zwei Menschen und die sind tot.

Die Originalbilder sind heftig. Etwa, wenn Degowski einer jungen Frau eine Pistole an den Kopf hält. Hattet ihr manchmal ein flaues Gefühl im Magen, weil ihr diese Bilder in eurem Film reproduziert?

Volker Heise: Nein, kein flaues Gefühl. Man muss die Bilder ja zeigen, um die Geschichte erzählen zu können. Bei manchen Bildern haben wir gesagt: Das geht nicht. Da gibt es eine Grenze.

Yan Schoenefeld: Manche Bilder überschreiten ein gewisses Level an Moral und Respekt vor den Opfern.

Volker Heise: Zum Beispiel, wenn der Junge ermordet und aus dem Bus rausgezogen wird: In zwei von drei Kameraeinstellungen sieht man, wie sein Kopf hochgehoben wird. Man sieht sein blutiges Gesicht. Man sieht den sterbenden Menschen. Und da haben wir gesagt: Das zeigen wir nicht.

Yan Schoenefeld: Das tut der Geschichte auch keinen Abbruch. In dem Film arbeiten wir ja ausschließlich mit Originalaufnahmen aus dieser Zeit. Es gibt kein Voice-Over, keine Interviews, nichts. Wenn in Dokumentarfilmen Zeitzeugen interviewt werden, gibt es ja immer irgendeine Form der Interpretation, eine Meinung oder eine Entschuldigung, die dir als Zuschauer vorgelegt wird. Das wollten wir vermeiden. Damit der Zuschauer sich selbst ein Bild machen kann. Gladbeck betrifft uns schlussendlich alle. Als Zuschauer sind wir genauso schuld.

Volker Heise: An einer Stelle im Film sagt ein Passant, der in der Kölner Innenstadt herumsteht, um ein Blick aufs Auto der Geiselnehmer zu werfen: „Ich stehe hier zwar, aber eigentlich sollte ich hier nicht stehen.“ Genau das ist doch unser Empfinden. Nicht nur gegenüber Gladbeck. Sondern insgesamt gegenüber Verbrechen. Man will nicht hingucken, aber man guckt hin und man muss auch hingucken, um die Welt zu begreifen.

War euch von Anfang an klar, dass ihr keine Interviews mit Zeitzeug*innen verwendet?

Volker Heise: Tatsächlich haben wir einmal probeweise Talking Heads eingebaut. Aber das hat den Film total kaputt gemacht. Die Unmittelbarkeit war weg, die Härte. Weil du zwischen die Bilder sofort eine Schicht Erklärung schiebst. Wie eine Nebelwand.

Wisst ihr noch, wie viele Stunden Material ihr gesichtet habt?

Volker Heise: Gar nicht so viel, weil überraschenderweise nicht viel aufbewahrt wurde. Man hat zwar live gesendet damals. Aber man hat auch vieles nicht mitgeschnitten, nicht aufbewahrt oder irgendwann weggeschmissen. Es war eher so, dass wir zu wenig hatten.

Neuaufnahmen kamen für euch trotzdem nicht in Frage?

Volker Heise: Nein. Es geht in dem Film darum, eine Zeitreise in die 1980er-Jahre zu machen. Das sind nicht nur die Frisuren, das sind nicht nur diese komischen Seiden-Trainings-Anzüge. Sondern es ist auch das Filmmaterial. Wir gehen zurück in die Zeit der 1980er-Jahre und erzählen eine Geschichte, die zwar lange her ist, uns aber heute immer noch angeht.

Was an der Geschichte ist immer noch aktuell?

Volker Heise: Das Geiseldrama hat sich während einer Übergangszeit ereignet. Zu einer Zeit, als Nachrichten zu Entertainment wurden. Mit der Geiselnahme von Gladbeck geht ein Verbrechen zum ersten Mal in Deutschland live on air. Heute ist das ja total normal. Man denke nur an die Stürmung des Kapitols in Washington D. C.

Gerade Hans-Jürgen Rösner lernt irre schnell, die Liveatmosphäre für sich zu nutzen. Er posiert für Fotos mit Waffe in der Hand. Und sagt Sätze, die sofort zu Schlagzeilen werden, wie: „Ich bin von Haus aus ein Verbrecher.“

Volker Heise: Durch die Kameras, die auf Rösner gerichtet werden, wird aus ihm mehr. Er kriegt jetzt nicht nur 15 Minuten Ruhm. Er kriegt drei Tage Ruhm. Das macht aus ihm eine andere Persönlichkeit. Und man sieht ja sogar, dass er trainierter wird im Umgang mit der Presse. Am Anfang ist er ein bisschen schüchtern. Aber mit jedem Interview wird er selbstbewusster und spielt seine Rolle besser.

Er wird eine nationale Berühmtheit.

Volker Heise: Ja. Das hat natürlich auch einen Nachteil für ihn. Er kann nicht mehr unentdeckt abhauen. Er ist gefangen. Und das führt dazu, dass er sich noch mehr produziert.

Euer Film entwickelt eine Sogwirkung, die so stark ist, dass man sich dabei erwischt, wie man ab und an denkt: Hoffentlich geht das Geiseldrama gut aus. Obwohl man ja weiß, dass es nicht gut ausgeht.

Volker Heise: Wir haben auch versucht, eine Sogwirkung herzustellen. Gladbeck war ja auch ein Trip. Pillen einwerfen und ab geht die Post.

Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski haben während der Geiselnahme Schlaftabletten und Alkohol konsumiert. Eine Kombination, die aufputschend wirkt.

Volker Heise: Genau. Und so wollten wir das auch erzählen. Es gibt am Ende diese Fotos von der Autobahn, auf der die Polizei die Geiselnehmer gestellt hat. Die einzigen Fotos im Film, die von oben gemacht sind. Damit wollten wir in die Distanz gehen und sagen: Das ist es jetzt. Das ist das Ergebnis. Am Ende von diesem Sog, von diesem Trip wartet die Wirklichkeit.

Und drei Menschen sind tot.

Volker Heise: Jenseits aller Erzählungen gibt es eine Wirklichkeit. Und in der Wirklichkeit sind wir sterbliche Menschen.

Lennardt Loss, Netflixwoche

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