Gibt es gute Aggression? Ein Anti-Gewalt-Trainer über die Serie BEEF

In der neuen Netflix-Serie BEEF wird aus einem harmlosen Verkehrsstreit ein Privatkrieg. Zum Start der Serie haben wir Anti-Gewalt-Trainer Ulrich P. Krämer gefragt: Warum haben Amy und Danny ihre Wut nicht unter Kontrolle?

Amy und Danny haben ein Aggressionsproblem. In der neuen Netflix-Serie BEEF geraten die beiden auf einem Parkplatz aneinander. Sie können sich nicht einigen, wer Vorfahrt hat. Zuerst hupen sie nur und schreien sich an. Doch dann liefern sie sich eine Verfolgungsjagd durch Los Angeles, rasen über rote Ampeln und durch Vorgärten. Bald haben Amy (gespielt von Ali Wong) und Danny (Steven Yeun) nur noch ein Ziel: Sie wollen sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen.

Zum Start von BEEF haben wir die Serie zusammen mit dem Anti-Gewalt-Trainer Ulrich P. Krämer geschaut und ihn gefragt: Warum haben Amy und Danny ihre Wut nicht unter Kontrolle? Ein Gespräch über lustvolles Fluchen, persönliche Hemmschwellen und die Frage, ob es auch gute Aggression gibt.

Netflixwoche: Wann haben Sie das letzte Mal im Auto geflucht?

Ulrich P. Krämer: Erst vorgestern. Ein Auto ist ja wie ein Kokon. Ein geschützter Raum, in dem wir uns sicher fühlen. Da kann man ruhig fluchen. Fluchen kann auch etwas sehr Lustvolles haben. Das ist immer noch besser, als auszusteigen und der anderen Person auf die Nuss zu hauen.

Ein bisschen fluchen ist also voll in Ordnung?

Es kommt darauf an, ob man sich selbst regulieren kann. Fluche ich nur vor mich hin und gehe niemanden an? Oder rase ich der anderen Person hinterher? Die meisten Menschen haben da eine innere Barriere. Wir regulieren uns selbst.

Amy und Danny haben diese Barriere nicht. Sie rasten sofort aus.

Wenn Danny und Amy tiefenentspannt gewesen wären, dann hätte es ihnen ja völlig egal sein können, wer Vorfahrt hat. Aber wenn das Aggressions-Grundlevel eh schon hoch ist, sieht die Sache anders aus.

„Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verscheucht es.“ – Gottfried Keller

Warum haben manche Menschen ein höheres Aggressionslevel als andere?

Aggression brauchen wir alle. Es ist ein lebensnotwendiger Trieb. Wenn wir nicht aggressiv sind, sterben wir aus. Sogar Sexualität braucht eine gewisse Aggression. Sonst würden wir bloß in der Gegend herumlümmeln: „Hallo? Kann sich bitte jemand mit mir fortpflanzen?“

Also gibt es auch so etwas wie gute Aggression?

Na klar. Wir brauchen schon ein bisschen Durchsetzungskraft. Das Problem ist nur: Unsere Aggression kann auch kippen und dann anderen Menschen schaden. Dann sind wir im Gewalt-Kontext.

Wir haben also alle Aggression in uns. Es kommt nur darauf an, wie niedrig oder hoch unsere Hemmschwelle liegt?

Ja, aber diese Hemmschwelle ist nicht statisch. Wir können sie verändern. Wenn ich mit Jugendlichen Anti-Gewalt-Trainings mache, dann geht es oft darum, einen Plan B zu entwickeln.

Plan A wäre Gewalt?

Genau. Der Klassiker bei Jugendlichen ist: Einer sagt „Hurensohn“ und der andere schlägt sofort zu. Wenn ich keinen Plan B habe, falle ich immer auf Plan A zurück: auf die Faust.

„Ist man in kleinen Dingen nicht geduldig, bringt man die großen Vorhaben zum Scheitern.“ – Konfuzius

Und wie sieht so ein Plan B für Jugendliche aus?

Was nicht funktioniert, sind die ganzen pseudo-pädagogischen Sprüche, die Eltern und Lehrer oft parat haben: „Geh doch einfach weg.“ „Deine Mama ist doch gar keine Prostituierte.“ „Der meint dich doch gar nicht.“ So was funktioniert nicht. Wir suchen nach Lösungen, die die Jugendlichen auch für sich als Lösungen anerkennen.

Wie sähe so eine Lösung aus?

Das kann man nicht pauschal sagen. Ich unterstütze mein Gegenüber, seine eigene passende Lösung zu finden. Mich hat ein Jugendlicher mal gefragt: „Herr Krämer, nehmen wir mal an, ich würde zu Ihnen ‚Fick deine Mutter!‘ sagen. Wie würden Sie reagieren?“ Da habe ich gesagt: „Meine Mutter würde das total freuen. Die ist 84 und hat seit 30 Jahren keinen Mann mehr gehabt.“

An einer Stelle in BEEF sagt eine Therapeutin zu Amy: „Wenn wir gestresst sind, greifen wir oft auf die alten Muster zurück, die wir uns als Kinder geschaffen haben.“ Stimmt das? Sind am Ende immer die Eltern schuld?

Nein, die Eltern sind nicht schuld daran. Aber trotzdem neigen wir dazu, auf Muster zurückzugreifen, die wir als Kinder erfahren und erlernt haben, wenn wir uns nicht bewusst dagegen entscheiden.

Das müssen Sie genauer erklären.

In meiner Generation sind viele Kinder von ihren Eltern geschlagen worden. Ich auch, von meinem Vater, der ein sehr gewaltbereiter Mensch war. Trotzdem schlage ich meine eigenen Kinder nicht. Auch, wenn sie mich in Situationen bringen können, wo mein Vater geschlagen hätte. Denn ich treffe immer wieder aufs Neue die bewusste Entscheidung, nicht auf die Muster zurückzugreifen, die ich von meinem Vater erlernt habe. Diese Chance haben wir alle: Wir können es anders machen.

„Stress? Ich kenne nur Strass.“ – Karl Lagerfeld

Amy und Danny scheinen keine Kontrolle über ihre Aggression zu haben. Stimmt das Sprichwort, dass Wut blind macht?

Naja, sowohl Amy als auch Danny leben ja in einer Lüge. Sie spielen den Menschen um sich herum etwas vor, das sie faktisch nicht sind. Amy lächelt pausenlos, auch wenn sie innerlich kocht. Und Danny tut vor seiner Familie so, als sei er ein erfolgreicher Geschäftsmann, obwohl er jede Menge Schulden hat. Die beiden müssten es schaffen, aus diesem Rahmen ausbrechen. Aber sie setzen sich nur noch mehr unter Druck, immer sexy und erfolgreich zu sein — und das ist natürlich explosiv.

Danny pisst in einer Szene das Badezimmer von Amy voll. Danach lächelt er zum ersten Mal in der Serie. Kann Wut glücklich machen?

Danny ist in ganz vielen Lebensbereichen ohnmächtig. Er verliert sein Auto. Er hat keine Kohle. Seine Eltern schauen auf ihn herab. Doch eigentlich möchte Danny mächtig sein, Erfolg haben und Entscheidungen treffen. Und dann kommt plötzlich dieser kleine Moment, wo er in Amys Badezimmer pissen kann. Wo er nicht mehr ohnmächtig, sondern mächtig ist und dafür sorgen kann, dass Amy sich schlecht fühlt.

Und das gibt ihm einen Glückskick.

Genau. Die eigene Ohnmacht weicht einer kurzen machtvollen Phase. Aber das hält natürlich nicht lange.

Irgendwann können sich Amy und Danny nur noch auf ihren Privatkrieg konzentrieren. Dafür vernachlässigen sie ihre Jobs und ihre Beziehungen zu anderen Menschen. Frisst Wut alles auf?

Der Konfliktforscher Friedrich Glasl hat mal ein Eskalationsphasen-Modell aufgestellt. In den ersten drei Eskalationsstufen können beide Parteien noch aus dem Konflikt treten, ohne dass sie ihr Gesicht verlieren. In den nächsten drei Stufen wird einer von beiden einen höheren Schaden nehmen als der andere. Und in den letzten drei Stufen geht es nur noch um eine Sache: „Mir ist scheißegal, wie hoch mein Schaden ist, solange deiner höher ist.“ Das hat man oft, wenn Paare sich scheiden lassen wollen.

„In der Wut verliert der Mensch seine Intelligenz.“ – Dalai Lama

Echt?

In der Wohnung steht vielleicht eine teure Vase, die einmal der Großmutter gehört hat. Der Mann will nicht, dass sie die Frau bekommt. Und die Frau will nicht, dass der Mann sie bekommt. Deswegen schlägt einer von beiden die Vase kaputt. Nach dem Motto: Mir ist egal, dass  jetzt keiner mehr die Vase haben kann. Hauptsache, du bist traurig.

Stellen Sie sich vor, Amy und Danny würden bei einem Anti-Aggressions-Training von Ihnen sitzen. Was würden Sie den beiden raten?

Eine Frage, die wir bei den Trainings oft stellen, ist: „Wie hoch ist der Preis, den du für dein Verhalten zahlst und wie hoch ist der Nutzen?“ Auch Amy und Danny zahlen einen hohen Preis für ihre Wut, beruflich wie privat. Der tatsächliche Nutzen ist objektiv betrachtet eher gering.

Amys Wut gefährdet nicht nur ihr Business. Sondern auch ihre Ehe.

Hier hilft oft die Adlerperspektive. Wenn Amy einmal von oben auf ihr Leben schauen würde, dann würde sie vielleicht sagen: „Ey, sei doch mal ehrlich zu dir. Hör doch mal auf, dich ständig zu belügen. Wo sind denn die schönen Momente in deinem Leben? Du stehst ja komplett unter Druck.“ Letztendlich müssten Amy und Danny ihr Leben komplett umstrukturieren.

Das klingt leichter gesagt als getan.

Durch ihre Wut sind Amy und Danny total fremdbestimmt. Jemand anders entscheidet, ob sie hochfahren oder nicht. Aber so lange sie das nicht merken, werden sie ihr Leben auch nicht ändern. Das ist wie bei Rauchern. Die wissen auch, dass sie nicht rauchen sollten. Aber solange sie keine heftige Lungenentzündung oder einen Tumor haben, hören die wenigsten von ihnen auf. Manchmal müssen wir leiden, um etwas zu verändern. Wissen allein reicht nicht.

Zur Person

Ulrich P. Krämer (Foto: Privat)

Ulrich P. Krämer (Jahrgang 1969) ist Systemischer Anti-Gewalt-Trainer. Er leitet regelmäßig Anti-Gewalt-Workshops und hält Vorträge in Schulen und Unternehmen. Vor 23 Jahren hat er Krämer Trainings gegründet und bildet auch andere Anti-Gewalt-Trainer*innen aus.

Lennardt Loss, Netflixwoche

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