„Wir waren wirklich am Ende unserer Kräfte“ – Felix Kammerer über Im Westen nichts Neues

Paul Bäumer ist ein junger Mann, wie es ihn millionenfach gegeben hat: Er war einer von Millionen, die im Ersten Weltkrieg gestorben sind. Die Geschichte Im Westen nichts Neues erzählt von seinem Schicksal als junger Soldat in diesem Krieg. In der neuen Verfilmung des Antikriegs-Klassikers wird Paul von dem Österreicher Felix Kammerer gespielt.

Im Interview mit Netflixwoche erzählt der Schauspieler über die Realität am Set, raue Hände und die traurige Aktualität der Kriegsgeschichte.

Im Westen nichts Neues wurde bisher dreimal verfilmt, aber ursprünglich ist die Geschichte ein Buch von Erich Maria Remarque. Erinnerst du dich noch daran, als du das Buch zum ersten Mal gelesen hast?

Ich hatte das Buch leider nicht in der Schule und habe es dann erst während des Studiums gelesen, einfach aus Interesse. Ich habe es damals aber eher überflogen. In der Vorbereitung zum Film habe ich es dann nochmal aufmerksam gelesen und mir auch die beiden Verfilmungen angeguckt. Und das hat mich ziemlich umgehauen. Das ist eine Walze. Danach habe ich erst mal ein bisschen Zeit gebraucht, um das zu verarbeiten.

Vielleicht auch, weil die Soldaten in der Geschichte – und leider auch in der Realität – so extrem jung sind. Du bist 27, Paul Bäumer ist nochmal zehn Jahre jünger. Wie hast du dich in eine solche Rolle eingefühlt?

Du spielst keinen Berufssoldaten, der weiß, worauf er sich einlässt. Du spielst einen Soldaten, der genau so geschockt von alldem ist, wie du selber. Insofern musste ich da gar nicht so graben, sondern die Geschichte nur auf mich wirken lassen. Ich habe in der Vorbereitung viel gelesen, ich habe viele Filme geguckt, Videos und Audioaufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg, die ja zum größten Teil Propaganda sind. Eine wirkliche Entdeckung war ein Online-Archiv mit über 2.000 Briefen, Feldpost aus dem Ersten Weltkrieg. Man kennt die Personen dahinter zwar nicht, aber man weiß, an welchem Punkt des Krieges sie geschrieben haben. Da steht dann „Wir sehen uns in ein paar Wochen“ – und das war 1914.

Abgesehen von der Recherche, wie hast du dich noch auf die Dreharbeiten vorbereitet?

Ich hatte einen Dialektcoach, einen Schauspielcoach und ich habe mit einem Waffencoach gearbeitet. Weil ich wusste, dass es auch körperlich sehr anstrengend wird, bin ich vier Monate lang drei mal die Woche zehn Kilometer laufen gegangen, mit zehn Kilo Gewichtsweste, um das Equipment zu simulieren. Das war aber zu optimistisch gedacht. Denn als wir dann nach dem Drehtag zum ersten Mal die Kostüme – voller Matsch, voller Nässe – gewogen haben, haben wir gemerkt, sie wiegen 45 Kilo. Und damit rennst du 14 Stunden am Tag herum.

Das heißt, diese Kälte, die im Film rüberkommt, diese Zermürbung – ein Teil davon war echt?

Alles, was im Film anstrengend aussieht, war auch wirklich anstrengend. Wir waren wirklich am Ende unserer Kräfte. Es war nass und dreckig, alles scheuert, die Hände sind aufgerieben, die Arme. Alles ist aufgerissen, weil der Lehm und die Sandkörner alles aufkratzen. Temperatur: Immer zwischen vier und zehn Grad. Aber, und das muss man immer wieder dazusagen, wir sind danach einfach wieder ins Hotel gegangen und haben hübsch was zu essen bestellt. Weil wir das Game of Make Believe spielen. Das konnten die Menschen damals und in den letzten Jahren nicht.

Hast du trotz allem versucht, Abstand zu deiner Rolle zu bewahren, auch aus Selbstschutz? Oder hast du dich der Rolle bedingungslos hingegeben?

Ich habe mich da ordentlich reingeworfen. Aber zum Glück mache ich den Beruf schon seit ein paar Jahren und weiß auch, wie weit ich gehen kann und ab welchem Punkt ich Abstand brauche. So wie bestimmte Rituale, um Arbeit bei Arbeit zu belassen und nicht mitzunehmen.

Was für Rituale hast du da?

Es gibt diese Fahrt von der Wohnung oder der Unterkunft zum Set. Und diese Fahrt ist heilig für mich: Die Tür geht auf, du steigst ein, dann ist für zwanzig Minuten oder eine Stunde alles ruhig. Die Fahrt über höre ich Musik, meine Playlist von der Produktion, die ich mir dafür gemacht habe. Dazu lese ich die Szenen von dem Tag. Du fährst mit dem Auto in eine andere Dimension. Und bist dann den ganzen Tag auf der anderen Seite. Und genau so am Abend: Du steigst ein und fährst wieder in dein Leben.

Was war für dich die größte Herausforderung?

Auf jeden Fall das nicht-chronologisch-Drehen. Vom Theater bin ich gewohnt, dass man vorne anfängt und hinten aufhört. Das dauert dann maximal vier Stunden. Aber hier habe ich an meinem ersten Drehtag eine der letzten Szenen gespielt. Da hab ich mich schon gefragt, wie das jetzt sofort so hinbekommen soll, damit wir im Schnitt dann keine Probleme kriegen.

Als du den Film jetzt gesehen hast, wie hat sich das angefühlt?

Natürlich krass. Ich erkenne mich selber auf der Leinwand nicht wirklich. Es wird sicher noch ein bisschen Zeit brauchen, bis ich merke, dass das wirklich passiert ist, dass dieser Film jetzt rausgeht in die Welt.

Ungefähr ein Jahr nach den Dreharbeiten ist der Krieg in der Ukraine ausgebrochen. Hat sich deine Wahrnehmung demgegenüber durch die Dreharbeiten verändert?

Nein, dass Krieg einfach das Allerletzte ist, das habe ich vorher schon gewusst. Und ich habe immer noch diese naive Hoffnung in mir, dass das ganz viele andere Leute auch wissen. Nachdem der Krieg ausgebrochen ist, dachte ich mir, das kann doch jetzt nicht wahr sein. Wenn du dir Fotos aus der Ukraine anguckst, sehen die teilweise aus wie kolorierte Farbfotos aus dem Ersten Weltkrieg. Es hört nicht auf, es ist dieser endlose Kreislauf: Hau drauf, hau drauf, hau drauf. Aber im Endeffekt hoffe ich nur, dass der Film vielleicht einen kleinen Teil dazu beiträgt, dass mehr Leute „Stopp“ sagen, „jetzt ist es vorbei, so kann es nicht weitergehen“.

Netflixwoche Redaktion

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