Die wahre Geschichte hinter „Our Father – Dr. Cline“

Triggerwarnung: Im Text geht es um sexualisierte Gewalt und Rassismus.

„Ich weiß, dass ich ihre Leben ruiniere, wenn ich sie anrufe“, sagt Jacoba Ballard und schaut in die Kamera. Ballard ist eine Protagonistin in der Netflix-Dokumentation Our Father – Dr. Cline. Mit „sie“ meint Ballard ihre Halbgeschwister, von denen es in den Vereinigten Staaten von Amerika mindestens 94 gibt.

Jacoba Ballards biologischer Vater ist Dr. Donald Cline. Ein Rentner aus Indiana, der früher einer der angesehensten Fruchtbarkeitsärzte im gesamten Land war. Während der 1970er und 1980er Jahre hat Cline dutzende seiner Patientinnen mit seinem eigenen Sperma befruchtet. Ohne dass die Frauen davon wusste. Ihnen log Cline vor, er nutze Samenspenden von Medizinstudenten.

Jacoba Ballard hat nur deshalb erfahren, dass Cline ihr Vater ist, weil sie einen DNA-Test auf der Seite 23andme gemacht hat und auf der Website plötzlich eine Nachricht auftauchte. Sie habe sieben Halbgeschwister, stand da. Ballard hielt das zunächst für einen Fehler. Doch dann wurde sie misstrauisch. Sie nahm mit ihren Halbgeschwistern Kontakt auf, recherchierte und enttarnte Donald Cline.

Our Father – Dr. Cline erzählt die Geschichte von Ballard und ihren Halbgeschwistern und macht dabei etwas, das viele True-Crime-Produktionen nicht tun: Der Film stellt die Opfer in den Vordergrund, die Überlebenden. Und nicht den Täter. Die Regisseurin Lucie Jordan gibt sowohl den betroffenen Patientinnen eine Stimme. Als auch den Kindern, die groß geworden sind, ohne zu wissen, wer ihr biologischer Vater ist. Jordan steht an der Seite der Opfer.

„Ich glaube, ich habe noch nie mit anderen Menschen so viel geweint wie bei diesem Film“, sagt Jordan in einem Interview mit Netflix Tudum. „Ich saß den Geschwistern beim Dreh gegenüber und habe versucht, ihnen einen Raum zu geben, in dem sie sich verletzlich zeigen dürfen.“

Doch nach dem Weinen kam die Erleichterung. „Der Bullshit wird weitergehen“, sagt Jordan. „Es werden neue Halbgeschwister auftauchen. Aber ihre Geschichte wird erinnert werden. Das war eigentlich alles, was ich von dem Film wollte: Er sollte die Geschichte der Halbgeschwister erzählen.“

Cline schweigt bis heute

Während der Dreharbeiten hat Lucie Jordan auch Donald Cline die Möglichkeit gegeben, sich zu seinen Taten zu äußern. Doch Cline lehnte ab. „Er hat sich geweigert, mit uns zu sprechen“, sagt Jordan. Deshalb habe Jordan sich dazu entschieden, im Film mit nachgestellten Szenen zu arbeiten. „Die Nachstellungen sind ein Kommentar auf Clines Schweigen.“

In Our Father erfahren wir, dass Cline einer extremistischen, christlichen Sekte angehört, die sich „Quiverfull“ nennt. Die Sekte vertritt nicht nur ultrapatriarchale Positionen, wie: Die natürliche Rolle der Frau sei die der Hausfrau und Mutter. Sondern die Sekte lehnt auch Verhütungsmittel ab und fordert ihre Mitglieder auf, so viele Kinder wie möglich zu zeugen. Donald Cline könnte aus religiösen Gründen so gehandelt haben, wie er gehandelt hat.

Die Ideologie der „Quiverfull“-Sekte setzt sich auch aus rassistischen und rechtsradikalen Verschwörungsmythen zusammen: Die Mitglieder glauben, dass sie Menschen, die nicht weiß sind, überlegen sind. Im Film diskutieren die Halbgeschwister, die fast alle blaue Augen und blonde Haare haben, ob Donald Cline ein White Supremacist sei und seine Patientinnen befruchtet habe, weil er so viele weiße Kinder wie möglich in die Welt setzen wollte.

An einer Stelle im Film erzählen die Halbgeschwister, dass Cline bei einem Treffen mit ihnen einen Bibelvers zitiert habe. Jeremia 1:5: „Ich habe dich schon gekannt, ehe ich dich im Mutterleib bildete“. Cline könnte auch einen Gottkomplex haben. Der Fruchtbarkeitsarzt, der Kinder im Mutterleib „formt“ und sie schon vorher kennt, weil die Spermien, die er verwendet, seine DNA in sich tragen. Der Bibelvers geht weiter mit: „Und ehe du geboren wurdest, habe ich dich erwählt, um mir allein zu dienen.“

Letztendlich wissen wir nicht, warum Cline das getan hat, was er getan hat. Er selbst hat sich öffentlich nie zu seinen Taten geäußert. Doch gerade die rechtsextremistischen und chauvinistischen Ansichten, die von Mitgliedern der Quiverfull-Sekte vertreten werden, legen nahe, dass Cline aus einer menschenverachtenden und zerstörerischen Ideologie heraus gehandelt hat.

Keine Gerechtigkeit für die Opfer

Besonders schockierend ist, dass Cline für seine Taten nie ins Gefängnis musste. Als die Halbgeschwister herausfinden, dass Cline ihr biologischer Vater ist, informieren sie unter anderem den Generalstaatsanwalt von Indiana. Aber die Behörden handeln nur langsam und auf Druck der Presse. Als endlich Ermittlungen aufgenommen werden, stuft man Clines Taten nicht als sexuellen Missbrauch oder Vergewaltigung ein. Er wird 2017 nur wegen Justizbehinderung verurteilt, weil er zunächst abstreitet, dass er bei den künstlichen Befruchtungen sein eigenes Sperma verwendet hat.

Gleichzeitig tauchen nicht nur immer mehr Menschen auf, die Kinder von Cline sind. Sondern die Halbgeschwister werden auch bedroht: Die Radmuttern am Auto von einer Frau werden über Nacht von einer unbekannten Person entfernt. Eine andere Frau bekommt Drohanrufe, in denen sie gefragt wird: Möchtest du einen Grabplatz auf dem Friedhof reservieren? Jemand hackt sich in den Google-Drive-Account einer dritten Frau und löscht alle Dateien, in denen der Name „Cline“ steht. Ob Cline selbst hinter all dem steckt, konnte nie bewiesen werden.

„Ich bin 15-mal vergewaltigt wurden und habe es nicht einmal mitbekommen“, sagt eine Patientin von Cline in Our Father. „Ich habe nicht meine Einwilligung dazu geben, dass er sein Sperma verwendet. Er hat mir keine Wahl gelassen.“ Tim Delaney, der zuständige Staatsanwalt, hält kurz danach dagegen: „Das Problem ist: Es gibt keinen Strafbestand für diese spezielle Handlung.“ Er streite nicht ab, dass Cline einen sexuellen Übergriff begangen habe. „Nur rechtlich gesehen eben nicht.“

Ob jemand ein Verbrechen begangen hat oder nicht, entscheidet in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht immer ein*e Richter*in. Sondern die Geschworenen. „Wir müssen Tim Delaney auch verstehen“, sagt die Juristin Jody Madeira in Our Father. „Als ich mit ihm sprach, sagte er, dass die Geschworenen in Indiana nicht gewählt seien, Theorien von Vergewaltigung durch Täuschung zu schlucken. Sie sahen es eher so, dass die Frauen der Befruchtung zugestimmt haben. Und ein Kind haben wollten.“

„Wie kann das kein Missbrauch sein?“

Andererseits sagt Jody Madeira, stehe im Gesetz von Indiana auch, dass eine Vergewaltigung Handlungen miteinschließen könne, von denen das Opfer nicht wisse, dass sie sexuell seien. Der Täter aber schon. „Dieser Vorwurf trifft auf Cline wohl am ehesten zu: Denn um Sperma zu produzieren, musste Cline in der Nähe des Zimmers masturbieren, in dem die Patientinnen warteten: von der Hüfte abwärts nackt und mit gespreizten Beinen.“ Die juristische Frage ist: Ab wann spricht man von einer sexuellen und ab wann von einer medizinischen Handlung?

„Was mich von Anfang an gestört hat, war das Narrativ, dass Cline seinen Samen nur gespendet habe“, sagt Lucie Jourdan im Netflix Tudum-Interview. Deshalb habe sie den Film mit einer Mastrubationsszene begonnen. „Ich wollte zeigen, was Spenden wirklich heißt: Man hat eine Erektion. Man onaniert. Und man führt den Samen danach direkt in die Patientinnen ein. Wie kann das kein sexueller Missbrauch sein? Ich hoffe, dass es da draußen einen Anwalt gibt, der den Film schaut und dem plötzlich ein juristisches Schlupfloch einfällt, wie man Cline vor Gericht bringt.“

Cline ist sich wohl keiner Schuld bewusst

Donald Cline ist mittlerweile 84 Jahre alt. Seine medizinische Zulassung hat er zwar verloren. Er darf nicht mehr als Arzt arbeiten. Aber mehr als ein symbolischer Akt ist die Zulassungsentziehung nicht. Cline ist schon lange Rentner und war vorher für viele Jahre sogar Mitglied der Ethikkommission eines Krankenhauses.

Jacoba Ballard hat der britischen Tageszeitung The Guardian in einem Interview gesagt, dass Cline bis heute in seiner Gemeinde sehr aktiv sei. „Er versteckt sich nicht. Sondern geht zu Schwimmwettkämpfen von seinen Enkelkindern. Er ist immer noch da. Ich glaube nicht, dass er von sich selbst denkt, dass er viel falsch gemacht hat.“

Trotz all dem hat Jacoba Ballard nicht den Mut verloren. „Cline hat mich nicht kaputtgemacht“, sagt Jacoba Ballard im Film. „Sondern mir vor Augen geführt, was ich wert bin. Ich habe erkannt, was meine Aufgabe ist: Ich bin eine Kämpferin. Und ich werde mich für alle Geschwister einsetzen, die ich habe, die ich kenne und nicht kenne. Und ich werde für jede Frau kämpfen, an der sich Cline vergriffen hat. Bis zu meinem letzten Atemzug.“

Im Jahr 2018 haben die Mütter und Halbgeschwister erfolgreich ein Gesetz in Indiana durchgesetzt, das Samenspenden ohne Einwilligung für illegal erklärt. Auf Bundesebene gibt es allerdings bis heute kein solches Gesetz in den Vereinigten Staaten von Amerika. Das ist beunruhigend. Denn durch kommerzielle DNA-Tests, wie sie die Halbgeschwister verwendet haben, hat man bereits 44 weitere Ärzte entdeckt, die ihr eigenes Sperma benutzt haben, um Patientinnen zu befruchten. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich weit höher. Donald Cline ist kein Einzelfall.

Netflixwoche Redaktion

Drücke ESC, um die Suche zu schließen.