Wie realistisch ist Vikings? Ein Archäologe erklärt, wie historisch korrekt die Serie ist

Krieger mit blonden Flechtfrisuren, die brüllend und Axt-schwingend über die Meere pflügen: So sieht das Bild aus, das unser Bewusstsein beim Wort „Wikinger“ heraufbeschwört. Eine Darstellung, die auch Serien wie Vikings und Vikings: Valhalla unterstützen. Die aber so nicht ganz der Realität entspricht.

Dr. Matthias Toplak, Mittelalterarchäologe und Direktor des Wikinger Museums Haithabu, hat Netflixwoche verraten, woher die Strahlkraft der Wikinger stammt, welche Rolle Frauen wirklich in ihrer Gesellschaft gespielt haben, und warum die Wikinger in der Serie Norsemen der wahren Vergangenheit erstaunlich nah kommen.

Netflixwoche: Herr Toplak, was ist eigentlich ein Wikinger? 

Dr. Matthias Toplak: Im eigentlichen Wortsinn ist das nichts anderes als ein Seeräuber oder Pirat. Der Ausdruck kommt von „fara i viking”, also „auf Raubzug gehen”. Diesen Begriff nutzen wir für eine ganze Epoche, eine ganze Kultur. Der „Wikinger” ist also nichts anderes als eine Tätigkeitsbezeichnung. Dabei ist die Realität so, dass nur ein Bruchteil der „Wikinger“ wirklich an Raubzügen teilnahm.

Was machte der Rest?

Der größte Teil der Gesellschaft der skandinavischen Wikingerzeit bestand aus Bauern, Fischern, Handwerkern, Händlern und Sklaven. Aber: Die Kriegerideologie war immanent in der damaligen Gesellschaft. Das heißt, der Krieger war das größte Ideal. Wir haben also die Situation, dass eigentlich jeder ein Krieger sein will, aber die meisten keine Krieger sind.

In Vikings: Valhalla geht es um Leif Erikson – den ersten Europäer, der das amerikanische Festland betrat. Wie viel wissen wir eigentlich über die historische Figur?

Leif Eriksson ist sicherlich eine der historischen Personen der Wikingerzeit, über die wir aus den Quellen am besten informiert sind. Er ist einer der zentralen Protagonisten in zwei der etwa drei Dutzend Isländersagas, der Grœnlendinga saga und der Eiríks saga rauða. Diese Sagas wurden allerdings erst Jahrhunderte nach den beschriebenen Ereignissen niedergeschrieben, irgendwann im 13. oder 14. Jahrhundert.

Dr. Matthias Toplak (Foto: Michael Staudt)

Wer war Leif Eriksson?

Leif Eriksson ist eine extrem spannende Person. Er wird vermutlich zwischen 970–980 n. Chr. auf Island geboren. Später wandert er mit seiner Familie nach Grönland aus. Vermutlich um das Jahr 999 reist Leif an den norwegischen Königshof, wird dort getauft und bringt das Christentum nach Grönland. Seine Familie nimmt den neuen Glauben an, nur sein störrischer Vater Erik der Rote will den alten Göttern nicht abschwören und stirbt noch als Heide. Um das Jahr 1000 herum ist es Leif, der das mythenumsponnene Vínland entdeckt, die kanadische Ostküste bei Neufundland.

Was unterscheidet Leif Eriksson in der Serie vom historischen Vorbild?

Ein deutlicher Unterschied zwischen dem historischen Leif Eriksson und dem Leif Eriksson der Serie ist sicherlich der Glaube. In der Serie ist Leif Eriksson anfangs überzeugter Heide, wohingegen die historische Person recht früh das Christentum angenommen hat. Allerdings werden in der Serie – sicherlich aus dramaturgischen Gründen – historische Personen, Ereignisse und Jahreszahlen wild durcheinandergewürfelt.

Sehen die Wikinger in der Serie den echten Wikingern denn wenigstens ähnlich?

Das Aussehen und die Kostüme der Protagonisten – sowohl bei „Vikings” als auch bei „Vikings: Valhalla” – ist einer meiner zentralen Kritikpunkte an beiden Serien. Hier wird mit schwarzem Leder, Fell und Tätowierungen ein Klischee bedient, das nichts mit der historischen Realität zu tun hat, aber offensichtlich einen Nerv der Zeit trifft. Kurz gesagt: Die Wikinger sind auf eine moderne und völlig unhistorische Weise cool und sexy. Aus Sicht eines Archäologen, der tagtäglich damit beschäftigt ist, gegen das Klischee der Wikinger als quasi nur halb zivilisierte Barbaren in schwarzem Leder und Fell anzukämpfen, ist das aber ziemlich bedauerlich.

Wikinger, oder doch Album-Cover aus den 90ern? Ganz so cool waren die historischen Wikinger wohl nicht.

Ist dieses sexy, aber historisch nicht korrekte Image der Grund, warum zur Zeit alle Wikinger lieben?

Ich denke, das liegt daran, dass sie eine Art Gegenentwurf zur modernen Welt sind. Die Wikinger sind wild, erleben Abenteuer, haben ihre eigenen Regeln. Einerseits strahlen sie Freiheit aus, andererseits stehen sie für eine Welt, die überschaubar ist. Mit festen Regeln und Gesetzen. Eine idealisierte Vergangenheit, die wir heute heraufbeschwören können, um uns aus dem schwierigen Alltag wegzuräumen.

Wikinger in Serien wie Vikings sagen also mehr über moderne Traumvorstellungen aus, als über historische Realität?

Die Medien zeigen die Wikingerzeit so, wie sie wir uns heute als Idealbild einer archaischen Gesellschaft vorstellen, nicht wie sie wirklich war. Das kann ich als Wikinger-Fan völlig verstehen. Als Wissenschaftler ist das aber ein Kritikpunkt an Serien wie Vikings und Vikings: Valhalla.

Was ist eine falsche Vorstellung über die Wikinger, die jeder mit sich rumträgt?

Ein gutes Beispiel ist die Frage nach weiblichen Kriegerinnen. In der populären Wahrnehmung der Wikinger wird wie selbstverständlich angenommen, dass Frauen als Kriegerinnen mit in die Schlacht gezogen sind. Der gegenwärtige archäologische Forschungsstand sieht aber anders aus. Es gibt ein ziemlich berühmtes Grab aus Birka in Schweden, in dem eine biologische Frau als sozialer Mann, in Männerkleidung und mit voller Bewaffnung, Reitzubehör und Pferden beigesetzt wurde. Dieses Grab ist faszinierend und hat über 100 Jahre Forschung zur Wikingerzeit auf den Kopf gestellt.

Aber…? 

Es ist bislang einzigartig und stellt uns weiterhin vor ziemlich viele Rätsel. Ganz sicher ist es aber nicht der wissenschaftliche Beleg dafür, dass Frauen wie selbstverständlich in die Schlacht gezogen sind. Dass es bei Vikings und Vikings: Valhalla von Schildmaiden nur so wimmelt, liegt einzig und alleine daran, dass dieses Rollenbild unserer modernen Vorstellung von Gleichberechtigung entspricht.

Welche Rolle spielten Frauen dann tatsächlich bei den Wikingern?

Tatsächlich war die gesellschaftliche Rolle der Frauen in der Wikingerzeit vergleichsweise hoch; diese populäre Vorstellung stimmt weitestgehend, wenn sie auch nicht den Männern völlig gleichberechtigt waren. Frauen konnten sich unter bestimmten Bedingungen scheiden lassen, sie waren erbberechtigt und geschäftsfähig, konnten also auch ohne einen Mann eine Hof führen. Sie durften aber zum Beispiel nicht bei der politischen Versammlung, dem Thing, sprechen. Auch wenn uns natürlich völlig klar ist, dass Frauen über ihre Ehemänner, Brüder und Söhne indirekt enormen Einfluss hatten.

Welche Wikinger-Serie oder Film kommt der Realität am nächsten?

Die Serie Norseman! Die ist nicht nur wahnsinnig witzig, sie bringt in ganz vielen Punkten das zum Ausdruck, was ich mit wikingerzeitlicher Mentalität verbinde. Die Ironie, der Sinn für Wortspiele und bizarr-skurrile Wendungen. Ich glaube, bei Norseman ist man der Mentalität der Wikinger deutlich näher als bei Vikings.

Inwiefern?

Aus den Skaldenstrophen entnehmen wir nicht nur eine Liebe für hochkomplexe Reimschemen, sondern auch für Doppeldeutigkeiten, Metaphern und einen augenzwinkernden Humor. Ich empfehle, die Isländer sagas zu lesen. Daraus kann man entnehmen, dass es nicht das größte Talent eines Wikingers war, möglichst viele Feinde mit der Axt nach Walhall zu schicken, sondern in der Halle des Königs beim großen Gelage aufzustehen und aus dem Stegreif eine Strophe zu dichten. Darin hat man die Taten des Königs besonders gelobt. Und im Idealfall ihn und die Königin auch noch sexuell beleidigt, ohne dass sie es mitbekommen haben.

Netflixwoche Redaktion

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