„Ich habe eine Schwäche für weibliche Spione“: Anna Winger über ihre neue Serie Transatlantic
- 12.4.23
2.000 Geflüchtete – so viele Menschen haben der Journalist Varian Fry und sein Emergency Rescue Committee vor den Nazis gerettet. Darunter verfolgte Intellektuelle wie Hannah Arendt und Walter Benjamin. Die neue Serie Transatlantic erzählt ihre wahre Geschichte.
Mit Transatlantic widmet sich die Produzentin und Drehbuchautorin Anna Winger (Unorthodox) einer Geschichte, die sie schon seit ihrer Kindheit begleitet. Im Interview mit Netflixwoche hat Anna Winger erzählt, wie die heutigen Kriege ihr Schreiben beeinflusst haben und warum Sex, Witz und Partys in Geschichten über dunkle Zeiten besonders wichtig sind.
Netflixwoche: In Berlin gibt es eine Varian-Fry-Straße. Den Freiheitskämpfer und das „Emergency Rescue Committee“ kennt in Deutschland aber fast niemand. Wie hast du zum ersten Mal davon erfahren?
Anna Winger: In meinem Umfeld gab es viele ältere Menschen, die im Zweiten Weltkrieg nach Amerika geflüchtet sind. Ich bin in Cambridge, Massachusetts aufgewachsen. Das ist eine wichtige Universitätsstadt. Dort gab es Akademiker, die in den 1930er und 1940er-Jahren aus Europa geflüchtet sind und ihre Geschichten erzählt haben. Manche von ihnen kannten Varian Fry persönlich. Mein Vater kannte auch zwei Mitglieder des Emergency Rescue Committee-Leute: Albert Hirschman und Lisa Fittko. Er hat mich auf ihre Geschichten gebracht.
Wusstest du gleich, dass du eine Serie aus dem Stoff machen willst?
Das ist eine ganz witzige Geschichte. Als ich jünger war, hat mein Vater zu mir gesagt: „Weißt du, worüber mal jemand eine Fernsehsendung machen sollte: Die Geschichte von Varian Fry und dem Emergency Rescue Committee.“ Und das war wahrscheinlich der erste Funken, der übersprang. Als ich Unorthodox gedreht habe, habe ich dann angefangen, mich ernsthaft in Varian Frys Geschichte einzulesen.
Ist so eine historische Recherche nicht ziemlich anstrengend und zäh?
Diese war sehr interessant, weil viele der Beteiligten von damals Schriftstellerinnen und Schriftsteller waren. Es gibt wahnsinnig viele verschiedene Aufzeichnungen: Memoiren, Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke. Beim Recherchieren habe ich mich gefühlt, als würde ich die Situation wie ein Prisma aus verschiedenen Perspektiven erleben. Wir haben uns bei Transatlantic zwar an die historischen Begebenheiten gehalten, aber die vielen individuellen Interpretationen haben uns inspiriert, uns auch kreativen Freiraum zu nehmen. Den haben wir vor allem in historische Graubereiche, das Privatleben und in die Situationskomik hineingeschrieben.
Es gibt eine Szene in Transatlantic, in der das Komitee den Geburtstag von Max Ernst feiert. Sie trinken, lachen und scheinen für einen Moment den Terror des Nationalsozialismus zu vergessen. War es dir wichtig, auch Leichtigkeit zu zeigen?
Ja. Ich finde es essenziell auch von Freude und Kunst, von Liebe und Sex zu erzählen – das sind die Dinge, die uns zu Menschen machen. Sie erinnern uns in der schlimmsten Krise daran, dass wir auch noch am Leben sind. Kunst zu machen und Zeit als Gemeinschaft zu verbringen, sind die stärksten Waffen gegen die Dunkelheit.
In der Partyszene steckt sehr viel Leben. Wie stellt man so eine Atmosphäre authentisch her?
Ich glaube, es hat auch damit zu tun, dass wir Transatlantic in der Pandemie geschrieben haben. Im Lockdown habe ich öfter an die Dreharbeiten von Unorthodox zurückgedacht und mich gefragt: Wird so etwas je wieder möglich sein? Als man dann tatsächlich wieder rausgehen und filmen konnte, hat es sich für uns wirklich angefühlt, als ob es etwas zu feiern gäbe. Mit der Party in der Serie haben auch wir vom Team das Leben gefeiert.
Unorthodox und Transatlantic basieren auf wahren Ereignissen. Findest du die Realität spannender als die Fiktion?
Ich glaube, es ist ein Missverständnis anzunehmen, dass Fiktion etwas komplett Neues ist: Selbst Genres wie Fantasy enthalten ja Elemente aus dem realen Leben. Ich würde sagen, die Serien sind auch Mischformen: Sie kommen aus der Realität, sind aber fiktionalisiert. Dass ich historische Stoffe auswähle, liegt wahrscheinlich auch daran, dass mich die Geschichte als Metapher für gegenwärtige Probleme interessiert.
In Transatlantic sagt jemand: Demokratie und Faschismus seien die neue Weltordnung. Auch heute könnte so ein Szenario wahr werden. Hattest du das im Hinterkopf, als Du die Serie entworfen hast?
Wenn man über die Vergangenheit schreibt, schreibt man eigentlich immer über die Gegenwart. Eben weil man von heute darüber schreibt. Die Serie ist voller Anspielungen auf die jetzige Zeit und ihre politische Spaltung. Unzählige Sätze, die in der Serie im Jahr 1940 gesagt werden, könnten auch im Jahr 2023 gesagt werden.
Während der Dreharbeiten zu Transatlantic ist der Krieg in der Ukraine ausgebrochen. Es gab auf einmal neue Geflüchtete in Europa. Hat sich damit dein Blick auf die Serie verändert?
Drei Tage nach Drehbeginn ist der Krieg in der Ukraine ausgebrochen. Das war sehr surreal und unheimlich. Zum Beispiel, als wir mit Moritz Bleibtreu als Walter Benjamin und Deleila Piasko als Lisa Fittko am Set waren und ihre Flucht über die Pyrenäen gefilmt haben. Das war zur gleichen Zeit, als Menschen vor der polnischen Grenze waren, um die Ukraine zu verlassen. Es war wirklich erschütternd. Es hat uns aber auf eine bestimmte Art in der Dringlichkeit unserer Serie bestärkt.
In der ersten Szene von Transatlantic kommen jüdische Geflüchtete aus Deutschland am Strand von Marseille an. Sie sind erschöpft, aber voller Hoffnung. Diese Bilder erinnern auch an die syrischen Geflüchteten im Jahr 2015.
Als ich angefangen habe, den Stoff zu entwickeln, kamen gerade viele syrische Geflüchtete nach Berlin. Mein Büro war im stillgelegten Flughafen Tempelhof. Dort hat auch ein Willkommenszentrum aufgemacht. Meine Tochter und ich haben dort geholfen, Geflüchtete mit Kleidung zu versorgen. Das hat mich an die Menschen erinnert, die im Zweiten Weltkrieg Berlin als Geflüchtete verlassen mussten. Und jetzt suchen Menschen in Berlin Zuflucht. Das hat mich tief berührt.
In Transatlantic sieht man viele Arten des Widerstands. Gibt es eine Widerstands-Geschichte, die dich besonders beeindruckt hat?
Persönlich habe ich eine Schwäche für weibliche Spione. Offensichtlich liebe ich also die Geschichte von Mary Jayne Gold. Ich liebe auch die Szene, in der Albert Hirschman sich als Nazi ausgeben muss, um sich selbst zu retten. Auch Varian Fry ist sehr mutig. Ich liebe die kleinen Momente, in denen er aufhört, korrekt zu sein und einfach drauflos macht. Das ist ein interner Akt der Rebellion.
Was empfindest du als die wichtigste Botschaft von Transatlantic für uns Menschen heute?
Es ist eine Geschichte über gewöhnliche Mensche, die etwas Außergewöhnliches tun, weil sie mutig sind und anderen helfen wollen. Schindlers Liste erzählt von einer einzelnen Person. In Transatlantic geht es um internationale Zusammenarbeit, Solidarität und wie man im Kollektiv Gutes erreicht. Die ERC-Mitglieder sind zwar schlechte Agent*innen und haben wenig Mittel – aber sie haben trotzdem Erfolg. Die Moral der Geschichte ist: Wenn die Welt auf dem Kopf steht, und man nicht weiß, wo Norden ist, findet man seinen Kompass in der Gemeinschaft.
Zur Person
Anna Winger ist Schriftstellerin, Produzentin, Drehbuchautorin. Sie studierte an der Columbia University in New York City und schrieb später für internationale Medien wie The New York Times Magazine und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Für die Fernsehserie Deutschland 83 schrieb sie mit ihrem Mann Jörg Winger das Drehbuch, im Jahr 2020 folgte eines für die Netflix-Miniserie Unorthodox.
Emeli Glaser, Netflixwoche