Zu Anatomie eines Skandals: "Ich habe gespürt, dass da etwas in der Luft liegt"

Triggerwarnung: In diesem Interview werden Themen wie sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung angesprochen

Anatomie eines Skandals ist diese Woche auf Platz 1 der Netflixcharts eingestiegen. Die Serie erzählt die Geschichte von Sophie Whitehouse, die mit dem britischen Tory-Abgeordneten James Whitehouse verheiratet ist und eines Tages herausfinden muss, dass ihr Mann eine Affäre hatte. Zunächst hält Sophie zu ihrem Mann. Doch dann muss James sich vor Gericht wegen Vergewaltigung verantworten. Zum Start der Serie hat Netflixwoche die Autorin der Buchvorlage getroffen: Sarah Vaughan. Ein Interview über Machtmissbrauch, Privilegien und einen Mann, der nie gelernt hat, was ein "Nein" bedeutet.

Ihr Buch Anatomie eines Skandals wird oft ein "#MeToo-Marriage-Thriller" genannt. Ist das eine passende Bezeichnung?

Als ich das Buch geschrieben habe, gab es #MeToo noch nicht. Das war über ein Jahr, bevor die Anschuldigungen gegen Harvey Weinstein publik wurden. Damals hatten wir als Gesellschaft noch keine Sprache gefunden, um über Belästigung und sexuellen Missbrauch zu sprechen. Ich habe einfach über ein Machtungleichgewicht geschrieben, das ich beobachtet habe. Zum Teil hat mich auch meine eigene #MeToo-Erfahrung inspiriert. Und mit diesem Stoff habe ich wohl den Zeitgeist getroffen. Wahrscheinlich habe ich beim Schreiben gespürt, dass da etwas in der Luft liegt. Darum ja: "#MeToo-Marriage-Thriller" ist wohl eine ziemlich korrekte Beschreibung von meinem Buch.

Glauben Sie, dass die Gesellschaft sich seit #MeToo zum Besseren verändert hat? Oder gibt es da draußen immer noch Männer wie James aus Anatomie eines Skandals?

Ich bin da eher pessimistisch. Hier im Vereinigten Königreich ist gerade der Fall von einem konservativen Abgeordneten durch die Presse gegangen, der beschuldigt wird, drei Frauen sexuell belästigt zu haben. Zwei davon waren seine persönlichen Assistentinnen. So ein Verhalten ist immer noch tief in unserer Kultur verankert. Man muss sich nur anschauen, wie viele Männer weit mächtigere Positionen innehaben als Frauen.

Das klingt wirklich sehr pessimistisch.

Damit sich wirklich etwas ändert, brauchen wir einen Generationswechsel. Ich habe eine 17-jährige Tochter und einen 14-jährigen Sohn. Mein Sohn lernt in der Schule gerade, wann einvernehmlicher Sex aufhört. Seit #MeToo ist das Teil des Lehrplans. Deshalb glaube ich: Erst, wenn die Generation meiner Kinder erwachsen ist, werden wir wirkliche Veränderungen sehen.

Bevor Sie Autorin geworden sind, waren Sie elf Jahre lang Reporterin bei der britischen Zeitung The Guardian. Sie konnten sehen, wie reiche und mächtige Männer in der Politik gelogen haben – und trotzdem im Amt geblieben sind. Haben Sie irgendwann Ihr Vertrauen in die Politik verloren?

Sie müssen sich nur anschauen, was gerade in der britischen Politik passiert: Wir haben mit Boris Johnson den ersten Premierminister in der Geschichte des Vereinigten Königreichs, der das Gesetz gebrochen hat, aber trotzdem immer noch Premierminister ist.

Sie sprechen von der "Partygate-Affäre"? Johnson und andere ranghohe Mitglieder der britischen Regierung haben Lockdown-Party in der Downing Street gefeiert.

Richtig. Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die an der Spitze der Macht stehen. Und die sich nicht an die Lockdown-Regeln gehalten haben, an die sich das ganze Land halten musste. Die Corona-Pandemie hat so deutlich wie noch nie gezeigt, was sich viele Politiker*innen herausnehmen. Ich habe meine Hoffnung in die Politik nicht verloren, weil ich Journalistin war. Es ist leider die Welt, in der wir heute leben.

Auch in Anatomie eines Skandals geht es darum, dass für manche  Politiker*innen offensichtlich andere Regeln gelten als für die Bürger*innen.

Die Serie macht das sogar noch deutlicher als das Buch: Der Skandal ist nicht nur die Vergewaltigung und die Frage nach Einvernehmlichkeit. Sondern auch, was manche Menschen für Privilegien genießen. Etwa, wenn der Politikberater sagt: Die Leute mögen es nicht mehr, wenn Politiker sich verhalten, als gehöre ihnen die Welt.

War es schwer, sich beim Schreiben in einen Charakter wie James einzufühlen? In einen Mann, der wegen einer Vergewaltigung angeklagt ist, der lügt und sich die Wirklichkeit so hinbiegt, wie es ihm passt?

Ich habe es geliebt, aus der Perspektive von James zu schreiben und die Psyche eines solchen Mannes zu erforschen. Darum geht es doch beim Schreiben: Man muss sich selbst eine Herausforderung stellen, man muss sich fordern, man muss seine Vorstellungskraft einsetzen. In meinem Leben konnte ich schon viele Männer wie James beobachten. Ich kann mich noch erinnern, als ich als Politikkorrespondentin beim Guardian gearbeitet habe, da stand ich einmal im Portcullis House in Westminster und habe ins Atrium herabgesehen.

Im Portcullis House haben die Abgeordneten des britischen Unterhauses ihre Büros.

Genau. Ich konnte da also folgende Szene beobachten: Ein konservativer Politiker mittleren Alters stolziert durchs Atrium. Dicht hinter ihm läuft seine sehr junge und sehr attraktive Assistentin, die einen dicken Aktenberg für ihn tragen musste. Dieses Bild hat sich bei mir eingebrannt, dieses Machtungleichgewicht. Er stolziert vorneweg. Sie läuft hinterher und muss alles schleppen.

Das Buch und die Serie sind wahnsinnig detailgetreu und sehr dicht erzählt. Wie sah Ihre Recherche aus?

Ich habe mir zum Beispiel einen Vergewaltigungs-Prozess angeschaut. Für mich war das entscheidend. Ich wollte verstehen, wie so ein Prozess funktioniert. Wie der Richter redet. Was für Fragen erlaubt sind. Aber auch wie die Jury schaut, wenn etwas vorgetragen wird. Mir ging es um die Couleur des Gerichtssaals.

Auch die Serie spielt immer wieder vor Gericht.

Ja, für mich war es sehr wichtig, dass die Szenen vor Gericht so wirklichkeitsgetreu wie möglich sind. Also haben wir uns für die Serie mit Rechtsberater*innen und Anwält*innen zusammengesetzt und beraten lassen. Für mich gehören die Gerichtsszenen zu den Besten, die ich je in einer britischen Serie gesehen habe.

Hat sich Ihr Blick auf das Buch durch die Serie verändert?

Ich habe gerade die US-amerikanische Ausgabe meines Buchs überarbeitet. Obwohl Sophie im Buch schwarzes Haar hat, habe ich Sie mir beim Überarbeiten mit blond-gefärbtem Haar vorgestellt. So wie Darstellerin Sienna Miller in der Serie. Es ist irre: Damals, als ich das Buch geschrieben habe, wusste ich noch nicht einmal, ob ich es überhaupt verlegt kriege. Und jetzt kann man sich die Verfilmung von Anatomie eines Skandals in 190 verschiedenen Ländern anschauen.

Was hat Sie an der Serie beeindruckt?

Die Serie hat natürlich mehr Plot als das Buch. Bei so einer Show muss man sechs mal 45 Minuten füllen. Deshalb gibt es mehr Wendungen, mehr Story. Die beiden Showrunner David E. Kelley und Melissa J. Gibson waren wahnsinnig mutig. Sie haben Ideen, mit denen ich im Buch nur geflirtet habe, weiter ausgebaut. Das hat mich beim Schauen sehr fasziniert. Ich bin wirklich gespannt, wie die Serie aufgenommen wird. Und natürlich hoffe ich, dass die Zuschauer*innen auch ein bisschen darüber nachdenken, was da bei den Gerichtsszenen eigentlich verhandelt wird. Dass sie vielleicht zu Hause diskutieren, ob sie James für schuldig oder nicht schuldig halten.

Lennardt Loss, Netflixwoche

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